november-dezember 1995

Ludwig Laher

Die Menassesche Handschrift

Zum Österreichschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse

Als ich von Frankfurt wegfuhr, wollte man mir die Wartezeit am Bahnsteig durch laute und gräßliche Main-

streaminstrumentalmusik verkürzen, und als in den Bundesligastadien die Halbzeit hereinbrach, war ich auch schon, ob ich wollte oder nicht, über die Zwischenstände informiert: Im ICE meint man, es zum Service zählen zu müssen, brühwarm den Rückstand des FC Bayern über die hilflosen Fahrgäste zu schütten.

Die Utopie der medialen Zwangsbeglückung auf allen meinen Wegen kann ich abhaken, sie ist Wirklichkeit geworden. Ich werde mich schnell gewöhnen. »Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern.« So heißt’s in Robert Menasses Eröffnungsrede.

Auf der Rückfahrt von der Frankfurter Buchmesse, dem jährlichen Spektakel inkl. diesmaligem Sonderspektakel Österreich, zwingen mich die Erfindung des Notebook und ein früher Redaktionsschluß, ohne Abstand was darüber zu schreiben. Alsdann:

Robert Menasse war als Festredner umstritten, wie jede/r andere es gewesen wäre, hätte ihn/sie die Wahl getroffen. Mir fällt jedenfalls kein anderer österreichischer Autor ein, der mit solcher Souveränität das Lebens- und Diskursgefühl des neuen Fin de siècle in Worte faßt. Und es fällt mir schwer zu glauben, daß ausgerechnet Menasse, der sich so sicher zu sein scheint und mit sichtbarem Vergnügen irritable Satzspenden als Brosamen ins Gewühl der Journalisten zu werfen pflegt, im finsteren Wald singt, um sich die Angst zu nehmen, wie es zweifellos für viele seiner Kolleginnen und Kollegen der Fall ist. In seinem Eröffnungstext spricht er von der Geschichte als gescheitertem Versuch, dem Sinnlosen Sinn zu geben. Alles Geschwafel, man habe die Lehren aus der Vergangenheit gezogen, alles Gerede vom Auftrag der Geschichte und dem Ziel historischer Entwicklung, es möge auf dem Misthaufen der Geschichte landen. Kein neuer Gedanke, auch bei Menasse vulgo Leo Singer längst kultiviert und in der »Phänomenologie der Entgeisterung« auf den sprachlichen Hegel gebracht, zielt er darauf ab, jedwede ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse als Formen notwendig falschen Bewußtseins kenntlich zu machen. Menasse übersieht dabei nicht, daß der gegenwärtige, vorgeblich ideologiefreie Pragmatismus des Westens mit seinem Anspruch, Geschichte solcherart zu vollenden, natürlich selbst wieder eine Ideologie ist; aber ich bin überzeugt, daß viele Zuhörer seiner Rede, so sie ihm bis dahin zu folgen imstande waren, diesen Teil der Menasseschen Handschrift in ihren Köpfen bald für verschollen erklären werden.

Und ich stehe im finsteren Wald des Bahnsteigs, sitze in moosigem Zugabteil, möchte laut singen, aber da ist schon James Last, und mittlerweile sind die Endresultate des Spieltags der deutschen Bundesliga eingelangt und torpedieren diesen meinen Gedanken.....

Am Schluß seiner »Phänomenologie der Entgeisterung« schreibt Menasse: »Das Bewußtsein weiß nichts mehr, hat aber alles, was es vergaß, als ein Ensemble von Zitaten und Paraphrasen in sich aufgehoben.« Diese Beschreibung postmoderner Zustände führt schnurgerade zur Hauptausstellung im Österreichpavillon.

»Der sechste Sinn« hieß sie, und man wollte darin persönliche Gegenstände österreichischer Autoren zusammentragen, Verbindendes über Lebende und Tote, Selbstdarsteller und Distanzkünstler, Ironiker und Pathetiker, über die vielen Damen und Herren also, deren Verbindung sich in Wahrheit darauf beschränkt, Texte verfaßt zu haben, die zusammen die österreichische Literatur ausmachen. Mit drei Seiten Autograph aus seinem Roman »Einsame Klasse« und einem zerschlissenen T-Shirt, seinem »Schreibleiberl«, berührt mich Gustav Ernst peinlich, während die vier Pflastersteine, die Robert Menasse in Rio, Paris, Wien und Prag, wenn’s stimmt, mitgehen hat lassen, als Installation des persönlichen Pflasterstrands ein ironisches Werk für sich bilden. Rolf Schwendters Kindertrommel hat die Struktur seiner Texte konstituiert, also gehört sie hierher, aber die Toten weitgehend der Möglichkeit zu berauben, sich über das gesamte Unterfangen lustig zu machen, indem die Gestalterin Cathrin Pichler deren Gegenstandsspende aus der Biographie hellseherisch erschloß, dazu gehört schon eine schöne Portion Selbstvertrauen und Ignoranz. Da liegt also der geöffnete Paß Thomas Bernhards in der Vitrine, ausgewählt wohl wegen der selbstgewählten Berufsbezeichnung »Landwirt«. Doch die öffentliche Zurschaustellung eines wg. Ablebens nutzlos gewordenen Privatdokuments, bedeutet sie nicht gleichzeitig die Verpflichtung zur Ausweisleistung vor der Behörde der Literaturgeschichte, das Ende des Rechts auf Privatsphäre bei Eintritt in den Olymp? Hätte mir Thomas Bernhard seinen Paß zeigen wollen wie Gustav Ernst sein Schreibleiberl?

Soviel zur sichtbaren Inkohärenz der Ausstellung, wenn man sich nun einmal auf ihr Konzept eingelassen hat. Ich halte es in der Sache eher mit Michael Scharang, der dem »lieben Staat« schrieb, es sei »öffentliche Gegenrede angebracht, will man nicht zulassen, daß man von einer alles verwurstenden Ausstellungsmacherei - der Wachstumsbranche übrigens innerhalb der Freizeitindustrie - als Objekt in der maximalen Größenordnung eines nützlichen Idioten gedacht wird. Wer allerdings wie ich die Vitrinen-Idee für einen Unfug hält, auf den man öffentlich reagieren muß, wird, während er das tut, entsetzt erkennen, was jede nicht aufgestellte Vitrine bedeutet: Noch mehr Platz für noch Schlimmeres.« Hier irrt Scharang allerdings, denn an die Ausstellung schloß sich ein (klein geratener), meist übervoller Raum mit Bücherregalen, alle unsere momentan lieferbaren Titel. Hätte man das Wiener Kaffeehaus in diese Bibliothek integriert und beiden mehr Platz eingeräumt, der Kunst, die »mehr schaffe, als mit den fünf Sinnen zu erfassen ist« (Rüdiger Wischenbart, Gesamtkoordinator), hätte man sich die Ausstellung »Der sechste Sinn« ersparen können.

Natürlich geht es in Frankfurt nicht um Inhalte, sondern ums Geschäft. Natürlich ist (un)verhältnismäßig viel Geld in ein kurzes Spektakel investiert worden. Natürlich hat der Österreichschwerpunkt der österreichischen Literatur etwas gebracht, Aufmerksamkeit, die sich kommerziell auswirken wird. Natürlich haben sich österreichische Autoren vor der Messe in die Auslagen der sensationsgeilen Zeitgeistmedien gesetzt und mit Steinen wild um sich geworfen, die Scherben müssen erst noch aufgeräumt werden.

Natürlich sitzen wir jetzt wieder an unseren Schreibtischen und fangen an zu singen in der Finsternis. Als ich mein Arbeitszimmer betrat, versicherte ich mich, daß in der Zwischenzeit kein Lautsprecher eingebaut wurde, über den mir als Service zwangsläufig mitgeteilt wird, daß der Papst Kreuzschmerzen hat oder Thomas Muster und daß sie Aspirin dagegen nehmen sollen oder Algesal. Ich konnte nichts finden, aber es wird schon noch kommen.

Natürlich ist die Zeit der einfachen Antworten längst vorbei. Und gerade weil der zentrale unbestreitbare Satz in Menasses Eröffnungsrede »Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich« nicht nur gegen den postulierten Geschichtsfortschritt gerichtet ist, sondern, vermittelt auch durch die unbestreitbare Wirklichkeit unserer Texte, fast im Blochschen Sinne noch vieles offenläßt, ist es nicht verkehrt, weiter zu schreiben und zu lesen, aber auch sich einzumischen.

Von Ludwig Laher ist zuletzt das Buch »unerhörte gedichte«,

Grasl 1995, erschienen.