november-dezember 1995

Jan Carlsen
kommentar

... auf zum nächsten Gefecht

Neuwahlen und danach: Der politische »Normalzustand« ist eine sozial- demokratische Chance

»Heulen, Zähneknirschen, Kofferpacken? Im Gegenteil: Nie haben wir Politik mehr gebraucht als heute!« (Armin Thurnher im Falter)

Wohl nur politisch naive Gemüter waren wirklich überrascht, als uns das ÖVP-Mascherl elf Monate nach dem EU-Beitritt Neuwahlen eingebrockt hat. Blenden wir zurück: Als Mitte der Achtziger-Jahre die Industrieellenvereinigung in einem berühmt-berüchtigten Memorandum ultimativ den Beitritt zur EG forderte, war klar, daß dieses »staatstragende« Vorhaben nur von einer »staatstragenden« großen Koalition durchsetzbar ist. Nur so war gewährleistet, daß, hüben wie drüben Bauern, Gewerkschafter und andere »Verlierer« von ihren Spitzenfunktionären wirkungsvoll ruhiggestellt werden konnten. Auch die Gleichschaltung der Medien konnte nur großkoalitionär erfolgen. Jetzt ist der Auftrag ausgeführt und siehe da: Das Mascherl kündigt die »Vernunftehe« auf und läßt sich »scheiden«.

Wir haben also wieder, zwar in der EU und nach Maßgabe der bürgerlichen Demokratie, »normale« politische Verhältnisse. Das alles übertünchende »nationale Anliegen« ist dahin und plötzlich redet alles vom »Richtungsstreit«. Höchstrangige SPÖ-Funktionäre nehmen plötzlich vor zwei Jahren noch Unaussprechliches in den Mund: »Es geht um links oder rechts«.

Mit zu dieser »Normalität« gehört freilich auch die Bedrohung von Rechtsaußen. Da sind wir EU-konform. Allerdings mit einem Pferdefuß: Während Italien eine rechtspopulistische Regierung relativ unbeschadet überstanden hat, ist das hierzulande nicht sicher. Am Stiefel hat die Rechte mit dem PDS-Linksbündnis einen starken Gegner. Dieser fehlt in Österreich. Deshalb ist Haider so gefährlich. Wer sich da dem politischen Engagement gegen Rechts verweigert und die FPÖ behandelt wie die demokratischen Parteien, ist Wegbereiter der Dritten Republik. Dies gilt für Wolfgang Schüssel ebenso, wie für Medien, Kultureinrichtungen, etc..., die vor lauter »demokratischer Ausgewogenheit« das Engagement gegen Rechts verweigern.

Daß die sieche österreichische Sozialdemokratie samt ihren scheintoten Funktionärstechnokraten reanimiert werden kann, um als Bollwerk gegen Rechts zu dienen, bleibt zu hoffen. Ohne Zweifel nämlich ist das Schicksal der Zweiten Republik aufs engste mit jenem der SPÖ verknüpft. Deshalb werden wohl viele, wenn auch mit Bauchweh, diesmal der sozialdemokratischen Nomenklatur ihre Stimme geben.

Das ist zumindest logisch, wird aber freilich nicht genügen. Die eigentliche Chance der politischen »Normalität« liegt im Ende dessen, was Franz Vranitzky »Stabilität« nennt, tatsächlich aber politische Agonie war. Damit eröffnen sich mittelfristig Chancen auf neue Bündnisse. Die SPÖ wird dazu auf allen Ebenen personelle Veränderungen brauchen; vor allem aber wird sie - auch aus eigenem Interesse - Tabuthemen zum Politikinhalt machen müssen. Auf Bundesebene beispielsweise die Zerschlagung der Mediaprint, auf kommunaler Ebene die kompromißlose (!) Verteidigung von Sozialeinrichtungen. Die Landes-SPÖ mit Klubchefin Gabi Burgstaller hat in Sachen Kinderbetreuungsgesetz angedeutet, wie das funktionieren könnte.