jänner-februar 1996

Birgit Feusthuber

Mehr als das Leben

Die Widerständigkeiten der Agnes Primocic und der Film von Uli Ramsauer und Christine Pramhas

Die Kinder muß sie zurücklassen. Mann und Sohn sind an der Front. Vier Jahre zählt das eine Mädchen, ein dreiviertel Jahr das andere. In den sieben Wochen, die sie 1942 in Salzburger Gestapohaft verbringt, weiß Agnes Primocic nicht, ob sie die Kinder nach ihrer Rückkehr noch lebend antreffen wird - der letzte Blick gilt dem älteren Mädchen, das mit einer Lungenentzündung am Sofa liegt. Während der Haft wird sie geschlagen, erlebt die Folterungen der Mitgefangenen. Sie beharrt darauf, nichts Unrechtes getan zu haben. Lebensgefährliche Tätigkeit: Geld für die Rote Hilfe zu sammeln, um die Familien eingesperrter Eisenbahner zu unterstützen. Wegen 20 Pfennig, die sie gespendet hat, wird eine Freundin nach Auschwitz deportiert. Agnes Primocic aber kommt frei. Ihre Selbstbewußtheit, ja auch Listigkeit retten sie vor einer längeren Zuchtstrafe, vor noch Schlimmerem. Und die unvorstellbare Standhaftigkeit ihres Mithäftlings, der eine Nacht lang an den Füßen aufgehängt wird, um ihre Beteiligung an der Sammlung preiszugeben: Er schweigt, wird zum Tode verurteilt. Die Kinder leben, als die Mutter nach Hause zurückkehrt. Eine Nachbarin hat sich ihrer angenommen, im vollen Bewußtsein der eigenen Gefährdung, »weil, wennst wem Verdächtigen hilfst, bist selber verdächtig«.

Verdächtig ist Agnes Primocic den Herrschenden seit frühester Jugend. Mit sechzehn Jahren beginnt sie in der Halleiner Zigarrenfabrik zu arbeiten, Akkord. Sie wird Betriebsrätin, revoltiert mit den anderen Frauen erfolgreich gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen. »Seither habens in der Stadt allweil gsagt, wenn irgendwas ist, die Zigarrenweiber schaffens schon«. Agnes Primocic liest in dieser Zeit ihr erstes Buch, August Bebels »Die Frau und der Sozialismus«. Der Vater, ein patriarchaler »Gefühlssozialist«, unterstützt die politischen Ambitionen der Tochter. Mit siebzehn wird sie Mutter. Der Vater tobt, spricht monatelang nicht mit ihr. Seine Pläne, in denen sie zur Arbeiterfunktionärin aufsteigen sollte, sieht er zerstört. Der Sohn muß »ausgestiftet« werden, daheim darf sie das Kind nicht behalten. Der Vater des Sohnes stirbt nach kurzer Zeit. Erst nach diesem Ereignis wird ihr erlaubt, das Kind ins Elternhaus zurückzubringen.

Woher die beständige Kraft zum Aufbegehren kommt, läßt sich auf keine Eindeutigkeit zurückführen. Das »soziale Gefühl«, sagt Agnes Primocic, das hat sie durch das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie mit acht Kindern erworben. So einfach scheint das, so geradlinig. Vielleicht ist die emotionale Reibung am Vater produktiv gewesen, dessen »Fuchtel« sie entkommen will, schon als sie mit dreizehn Jahren bei den Bauern ihr erstes Geld verdient. Vielleicht sind es auch die scheinbaren Nebensächlichkeiten, kleinen Gesten, die etwas Unzerstörbares in einem Menschen bewahren, etwas wachsen lassen, das sich viel später vielleicht mit dem Begriff Widerstandsfähigkeit, Menschlichkeit bezeichnen läßt: »nicht getreten werden, wo es das nächstliegende gewesen wäre. kein schlag, wo aller berechenbarkeit nach einer hätte folgen müssen. vielleicht jemand, der wortlos ihren teil der arbeit übernimmt, als sie einmal nicht mehr kann. vielleicht eine lose folge von blicken, berührungen, lächeln, aufgeworfenen lippen, etwas, das in ihr langsam und unbenennbar den anderen faden webt« - so Gudrun Seidenauer in ihrer Laudatio zum Film »Mehr als das Leben« der beiden Salzburger Filmemacherinnen Christine Pramhas und Uli Ramsauer, der bei der letzten Diagonale gezeigt wurde. In diesem Dokumentar-Film blickt uns das unzerstörte Gesicht der Agnes Primocic entgegen, ein Gesicht, das von Lebendigkeit und Verschmitztheit zeugt. Nur manchmal legt sich die Schwere der Erinnerungen über diese scheinbare Ungebrochenheit, dann stocken die Worte, verlieren sich in einem beredten Ringen um Luft. Hier bündeln sich geschichtliche Erfahrungen, körperlich, und wir als Zuschauende halten den Atem an, weil sich einen Lidschlag lang ein Schatten über uns legt, der bis in unsere Leben hineinragt, unsere Stirnen schwärzt. »Freilich hab ich mir dann nach meiner Verhaftung, wie meine Kinder noch so klein waren, denkt, ich darf nix mehr tun. Aber wie die Situation kommen ist und wie an mich ein Hilferuf ergangen ist, hab ich wieder net anders können.« Nicht anders können als helfen. Im Film sagt sie: »...weil i m0g ma j0 net, i mecht jo net mithöfn ana so ana Ungerechtigkeit«. Und Gudrun Seidenauer schält diesen Halbsatz heraus, legt eine Spur frei zu einer möglichen Erklärbarkeit: »..weil i mog ma jo net«, das könnte heißen, »vielleicht: ich mag mir nicht antun, da mitgetan zu haben. ich mag mir nicht antun, da durch nichtstun mitgetan zu haben. widerstand ist nicht selbst-los, im gegenteil. widerständig handeln, freiwillig widerständig handeln setzt ein selbst, ein empfindenkönnen, ein lebendig sein voraus. ein sich selbst empfinden können«. Sich selbst empfinden können. Agnes Primocic wird gebeten, Zivilkleidung für siebzehn Häftlinge aufzutreiben, die aus einem Lager im Pinzgau flüchten wollen. Es ist 1944, und die Befürchtung der Gefangenen realistisch, vor dem endgültigen Ende des Naziregimes umgebracht zu werden. Wieder eine hochkonspirative Tätigkeit, denn Kleidung ist in dieser Zeit ein kostbares Gut. Da gibt es schnell Fragen, da muß man schlagfertig sein, pfiffig, ein Gespür für Leute haben, nur zu solchen gehen, »bei denen du halbwegs sicher warst, daß sie nix erzählen«. Mit einer Waffe im Kleiderkoffer übersteht sie mit ihrer Freundin, der »Ziegeleder Mali, einer Hundertprozentigen«, die Ausweis- und Gepäckkontrolle der Gestapo. Sie kennt einen der Männer, er ist ihr als ehemaliger Funktionär der Kinderfreunde bekannt. Freundliches Grüßen, Durchwinken, »wenn ich heut oft noch nachdenk, mehr Glück als Verstand«. Monatelang hören die Frauen nichts mehr. Bis eine Nachricht zu Agnes Primocic dringt, daß die Exekution der Häftlinge unmittelbar bevorsteht. Wieder ein Hilferuf: Sie, in Rot-Kreuz-Uniform, könnte doch......Sie tut es, natürlich. Natürlich? In ein Lager gehen, an SS-Gewehren, die auf sie angesetzt sind, vorbei, forsch nach dem Lagerkommandanten fragen, ohne Umschweife die Freilassung der Gefangenen fordern, da sowieso schon alles vorbei sei? Und ihr Bruder wäre auch unter den siebzehn, das müsse der Herr Unterscharführer verstehen, daß sie den lebend wiederhaben wolle. Der Name des Bruders fällt ihr nicht ein, das erzählt sie im Film wie eine spannend aufbereitete Anekdote, da blitzen die Augen, eine Kunstpause wird eingebaut, das Wissen um das glückliche Ende macht das Erzählen leichter. »Na der Schani halt«, bringt sie vor dem Kommandanten heraus, mehr als diesen Spitznamen weiß sie nicht, weiß nur, sie steht unmittelbar vor der Entdeckung - »Ich hab schon das Herz unten in den Zehen gespürt« - und aus dem Mund des Gegenüber kommt das Rettende: »Ach, der Stachenberger«. Und Agnes Primocic schafft es, den Bürgermeister unter Druck zu setzen, damit die Häftlinge »hinter seinem Rücken, er hot gsogt, er weiß von nix, so feig wor der«, aus dem Lager gebracht werden können.

Zwischen den Erzählpassagen streift die Kamera über Bahngleise, Häuserwände, junge Frauenhände, die Wäsche zusammenlegen. Und über die alten Hände der Agnes Primocic, die in Fotoalben blättern.

»Niemand soi sogn, er hätt nix gwußt« - das ist der letzte Satz im Film. Das Auge der Kamera ist frontal auf das alte, vitale Gesicht eingestellt, verharrt darauf.

Das Bild ihres Gesichts, über das sich dieser letzte Satz ausbreitet, das nicht verwüstet scheint von den Schrecken der Vergangenheit, hellt unsere Stirnen auf.

Etwas Würdevolles und Selbstverständliches schwingt noch lange nach in unseren Gegenwärtigkeiten, nachdem wir leiser als sonst vielleicht den Kinosaal verlassen haben.

Zitate aus:

»Mehr als das Leben«.

Film von Ulrike Ramsauer und Christine Pramhas, 1995

Gudrun Seidenauer:

Text anläßlich der Erstpräsentation des Films im Nov. 1995

Karin Berger u.a.(Hrsg.):

»Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand«.

Österreich 1938-1945, Leipz. 1988