jänner-februar 1996

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Kinderbetreuung: Privat statt öffentlich?

Werden Kinder besser in öffentlichen Einrichtungen oder bei Tagesmüttern bzw. privaten Kindergruppen betreut? Das ist wohl die falsche Diskussion.

Heute widerspricht dem kaum jemand mehr, und es ist überall zu hören, zu lesen und wissenschaftlich untermauert: Optimale Voraussetzungen, sich zu entwickeln, hat ein Kind in unserer Gesellschaft dann, wenn es in einer gut funktionierenden Familie aufwächst. Zugleich war es noch nie so schwer wie heute, als Familie gut zu funktionieren. Die beruflichen Anforderungen sind enorm gestiegen, doch dies bedeutet auch die Hintanstellung anderer Bereiche wie der Familie. Und es sind oft nicht nur finanzielle Gründe: Zu Recht drängen Frauen auf berufliche Selbstverwirklichung, durchbrechen das alte Rollenklischee der Hausfrau und Mutter.

Aus diesem Blickwinkel wird auch der steigende Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen verständlich. Und ein Blick auf Wahlversprechen der Parteien bei den letzten Wahlen zeigt: Für die Kinder wollen alle was tun. In Zeiten allerdings, wo Sparen angesagt ist, baut man auf einschlägige Ideen. Das Schlagwort heißt auch hier »privatisieren«. Private Betreuungsformen wie Tagesmütter oder von Eltern organisierte Kindergruppen sollten forciert, bei öffentlich organisierten Formen dagegen möge eher gespart werden. Drei Argumente sind es hauptsächlich, die in dieser Diskussion wirksam werden.

1. Privat ist familiärer.

Es sei doch günstiger, so wird behauptet, Kleinkinder bei Tagesmüttern unterzubringen, da diese wesentlich besser den fehlenden Familienbezug herstellen könnten. Tagesmütter glauben dementsprechend oft, in die Mutterrolle schlüpfen zu müssen. Die familientherapeutische Praxis hingegen zeigt etwas anderes: Tagesmüttermodelle funktionieren dort gut, wo der Tagesmutter klar ist, daß sie nicht »die Mutter« dieses Kindes ist. Wo diese Arrangements verschwimmen, kommt es zu Konkurrenzverhältnissen zwischen Tagesmutter und Mutter. Die betreuten Kinder zeigen dann oft »unerklärliche« Anzeichen von Verstimmtheit. Anders ausgedrückt: Den Anspruch, »familiär« zu sein, kann das Tagesmüttermodell nicht einlösen, soll es auch gar nicht.

2. Privat ist individueller und vielseitiger.

Es scheint auf der Hand zu liegen: Sind, wie im Fall der Tagesmutter, drei oder vier Kinder zu betreuen, bleibt mehr Zeit, auf individuelle Bedürfnisse jedes Kindes einzugehen. Allerdings ist die Tagesmutter alles in einem: Köchin, Putzfrau, Pflegerin, pädagogische Fachkraft;

dazu kommen noch die Ansprüche der meist vorhandenen eigenen Kinder. Bei ein oder zwei Tageskindern ist die Belastung daher wahrscheinlich verkraftbar. Aber das ist wiederum finanziell kaum attraktiv.

Außerdem sind Privatpersonen und private Gruppen hinsichtlich der Reichhaltigkeit des Angebotes an Spielen und kindgerechter Einrichtung öffentlich geführten Institutionen kraß unterlegen. Vor allem fehlen ihnen meist ausreichende Möglichkeiten zu der so wichtigen Bewegungs- und Wahrnehmungsförderung von Kindern.

3. Privat ist günstiger und effektiver.

Hier fragt sich: für wen? Fest steht, daß private Betreuungsplätze für Eltern ungefähr das Doppelte eines Platzes in einem Gemeindekindergarten oder einer Gemeindekrabbelstube kosten. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich: In der Steiermark werden private Vereine mit der Aufgabe mobiler Hausfrühförderung von Kindern betraut. Bis jetzt sind es bereits an die zehn Vereine, und jeder dieser Vereine bekommt von der öffentlichen Hand Stützung und Förderung, deren Höhe von der Anzahl der betreuten Kinder abhängt. Die Folge ist ein »subtiles« Gerangel um Kinder. Die für effektive Kinderbetreuung entscheidende interdisziplinäre und interinstitutionelle Kooperation bleibt dabei auf der Strecke.

Also doch keine private Betreuung von Kindern? Der Münchner Soziologe Heiner Keupp sagt, daß Stabilität und Wohlbefinden einer Person entscheidend davon abhängt, in welches Netzwerk an Beziehungen sie eingebettet ist. Im Netzwerk für Kinder spielen private Betreuungsmöglichkeiten meines Erachtens nach eine nicht wegzudenkende Rolle. Das Fundament dieses Netzwerkes ist aber von der öffentlichen Hand zu tragen. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will: Kinderbetreuung ist heute eine gesellschaftliche Aufgabe und nicht einfach so reprivatisierbar. Versucht man es, zerschneidet man das Netzwerk für unsere Kinder. Zweifelsohne ist es so, daß das viel kostet, doch wir sollten es uns leisten.

Philip Streit

ist Kinderpsychologe und Leiter des Institutes für Kind, Jugend und Familie in Graz.