märz 1996

Peter Truschner
gelesen

HAROLD BRODKEY

Die flüchtige Seele (Rowohlt Verlag 1995)

»Mit Klapsen und unter dem intimen Applaus der Geburt wurde ich in die Welt gedrängt - ich meine mich daran erinnern zu können.«

Menschen, Orte, Ereignisse überstehen die Selektionsmechanismen unseres Erinnerungsvermögens nur selten unversehrt. Sprechen wir über Gestalten aus unserer Kindheit, sind es bereits Verstümmelte, Amputierte. Viele sind zu einem Zeichen mutiert, andere zu einem Wort verkommen - eine letzte Spur, daß sie in einem Leben einmal eine Rolle gespielt haben. Daß sie Ganzheiten waren, aus Fleisch und Blut, mit einem unabhängigen Bewußtsein, das dem kindlichen Zugriff weitestgehend entzogen war. Aber plötzlich sind sie der Gedächtniswerkstatt eines Schriftstellers wie Harold Brodkey ausgesetzt. »Aufzuwachen ist in gewisser Hinsicht so, wie von einem Güterwaggon in den Schotter springen, in die Realität des eigenen erwachenden Atems.« Brodkey löscht wesentliche Charakterzüge aus, biegt sie zurecht, setzt sich großzügig über anatomische Vorgaben hinweg. Alles, was nicht wesentlich für ihn ist, ist ein Fall für die Statistik. Die Sache ist nur, daß ihm im Laufe dieser über tausend Seiten dauernden Odyssee des Heranwachsens nichts unwesentlich erscheint, nichts unmöglich.

Brodkey treibt die Intimität auf die Spitze - und verschweigt gerade deshalb nichts. Die Größe des Buches besteht auch darin, daß es keine Details gibt. Alles ist überlebensgroß. Eine einzige Bewegung vermag einen Kindheitsabschnitt zu repräsentieren. Der verunsichernde Humor des Adoptivvaters etwa wird so intensiv beschworen, daß eine Schilderung seines Körpers nahezu überflüssig scheint: Er durchdringt ohnehin alles.

Der rauhe Wind der Skepsis läßt Brodkeys Sprache Funken schlagen: Wie ein Komet zieht seine Prosa 1347 Seiten lang über den Nachthimmel seiner Jugend. Wahre Sätze gibt es letztendlich nicht. Aber Möglichkeiten, die darauf warten, gedacht, gelebt und - aufgeschrieben zu werden. Ihre Geduld ist groß: Erst im Augenblick ihrer Entdeckung fällt es einem wie Schuppen von den Augen und man erkennt, daß sie immer schon da waren. »Sporadisch erlebe ich manche der Empfindungen erneut. Und eindringlich. (...) Ich hatte versucht, mich an Lust zu erinnern, doch auf dem Erinnerungswege ist Lust nicht zu erfahren, nicht annähernd so überzeugend leidenschaftlich, wie wenn sie gerade errungen wird und gegenwärtig ist.«