märz 1996

Mario Jandrokovic

In den bunten Kellern Prags

Auch was das Nachtleben im kulturellen Off-Bereich angeht, ist die vielgerühmte »Goldene Stadt« einen Besuch wert

Billig!, ruft der hiesige Kulturgourmet erfreut bei der Stippvisite in Prag aus, denn auch im Jahre Sieben nach der Samtenen Revolution ist die touris-musindustrielle Überwucherung, die nunmal stets ihren Preis hat, offenbar noch gar nicht so arg fortgeschritten, wie es sich gerade ein Reisender aus der Mozartstadt deutlich auszumalen vermag. Ist der Kern der Anderthalbmillionenstadt, der erste Bezirk, auch zum gefragten Spekulationsobjekt geworden, so ist er offenbar doch weitläufig und labyrinthisch-verschachtelt genug, daß er nicht gänzlich zur ausgehöhlten Kulisse wird und in den gewundenen Gäßchen und verwinkelten Hinterhöfen noch genug Enklaven bleiben, wo man einer der Lieblingsbeschäftigungen des Alternativtourismus nachgehen kann: Sich in unscheinbaren, nach wie vor billigen Lokalitäten unters Volk zu mischen.

Jedenfalls bleibt die Salzburger Gretchenfrage, wie sehr die Goldene Stadt wirklich der Attraktivität gewachsen sein wird, die sie ausstrahlt. Die Solidarischen diesseits des Eisernen Vorhangs haben ja der einstigen Tschechoslowakei eine beträchtliche Bürde als moralische Krücke auf den Weg in die Freiheit aufgeladen: die rückwärtsgewandte Aufbruchsstimmung Marke Mitteleuropa als ein schwelgerisches, nostalgisch angehauchtes Vexierbild einer Opposition, die mit Kultiviertheit ein menschenverachtendes System mürbe macht. Irgendwie ist dieses utopische Importgut dann auch Realität geworden, nachdem der Umbruch von 1989 nicht zuletzt nach einer mitteleuropäisch angehauchten Einlösung der Verheißungen von 1968 anmutete - gerade weil ein vormals dissidenter Künstler Staatsoberhaupt wurde.

Ein großer Batzen an amerikanischen Bürgern besiedelte die Erlebniswelt des Golems und Kafkas, um in einer verfeinerten, weil über die touristische Halbwertszeit ausgedehnten Art und Weise den Traum vom Hemingway’schen Bohemiendasein in Europa und vom Wiener Walzer nachzuleben. Saxophonspielende Manager kamen, gleichsam als Kulturbotschafter ihres nicht minder kreativen Präsidenten. Richard Green, Kulturredakteur der englischsprachigen Wochenzeitung »Prague Post« und seit viereinhalb Jahren in der tschechischen Metropole ansässig, schätzt deren Zahl auf etwa zwanzig- bis dreißigtausend. Der erhoffte kulturelle Aufschwung, der mit den Amerikanern und wohl auch ihren Konten Einzug in Prag hätte halten sollen, ist Einheimischen zufolge eher ein verhaltener. Die Kulturzirkel dieser Weltbürger werden wohl eher in den aus dem Boden sprießenden, exquisit anmutenden Lokalitäten gepflegt, deren Preislisten auch die ehemaligen »Besucher aus dem Westen« abzuschrecken vermögen, als denn die großen Teile einer verarmten Bevölkerung.

In jener Stadt, wo selbst der Präsidentensitz das Timbre kultureller Avantgarde zu verbreiten scheint, ist das Angebot in Sachen bildende Kunst, Theater und Musik laut Richard Green allerdings eher von Konservativismus geprägt; eine blühende Off-Szene, die sämtlichen Zentren der ehemals real existierenden Dissidenz nachgesagt wird, ist jedenfalls nicht als Bestandteil des gehegten offiziellen Kulturlebens abgesegnet. Frantisek Malina, Pressesprecher des Kulturministers, begrüßt die kulturelle Vielfalt, die sich nach dem Wegfall der ideologischen und emotionalen staatlichen Kontrolle ergeben habe. Allerdings sei der Kultur damit selbstverständlich auch die schützenden Hand von Vater Staat abhanden gekommen: »Die Kultur war früher wie ein gut gefüttertes Tier im Zoo«, meint Malina und heißt sie nun willkommen am freien Markt. Für so manche jener Initiativen, die noch im Taumel der »samtenen Revolution« aktiv wurden, heißt diese Befreiung im Namen des offenen Wettbewerbs allerdings auch, zum marktwirtschaftlichen Abschuß freigegeben worden zu sein.

Jirka Kuba vom Musikclub »Bunkr« weiß denn auch zu berichten, daß die Listen der Subventionswürdigen nach dem Umbruch faktisch dieselben geblieben sind: Wer früher Märsche für die Militärmusik schrieb, bekommt halt heute seine Forschungsreisen subventioniert, um eine Sinfonie über das Meer zu schreiben. Auch die Bunkr-Belegschaft hat mit ihren Veranstaltungen im Jahr der Revolution begonnen, und zwar - wie viele andere - im riesenhaften Keller des Stalin-Denkmals. Dies war der Freiraum für Ereignisse, mit denen ein neues bürger-liches Selbstverständnis artikuliert wurde. Beim nunmehrigen Besuch in den 1991 bezogenen Kellerräumen war denn das Klima der Stagnation durchaus spürbar; eine lokale Punkband ließ im halbleeren Zuschauerraum lautstark Durchhalteparolen verhallen.

Mit Fug und Recht war der Club 1994 vom Musikmagazin »Spex« zu einem der attraktivsten in ganz Europa gekürt worden. Das qualitätsvolle Programm sei, so Jirka Kuba, allerdings schwer aufrechtzuerhalten, denn nur noch wenige Bands sind wie unmittelbar nach der Öffnung bereit, zu solidarischen Dumpingpreisen zu spielen. Wegen der schwachen Kaufkraft des Publikums könne man für die Karten umgerechnet kaum mehr als zwanzig Schilling verlangen. Subventionen gebe es keine, allerdings verpachtete die Stadt die Räumlichkeiten auf 99 Jahre für einen symbolischen Zins von einer Krone. Allerdings hatte die Stadt schon einmal über den bekannten, eleganten Umweg entnervter Anrainer versucht, sich aus dem Vertrag zu verabschieden.

Erstaunlicherweise liegen sowohl Bunkr als auch ein weiterer einmaliger Platz der Prager Alternativkultur, das »Roxy«, nach wie vor im aufstrebenden ersten Bezirk der Stadt. Die Roxy-Belegschaft adaptierte Räumlichkeiten, die schlichtweg als sensationell zu bezeichnen sind. Durch eine eher unscheinbare Tür gelangt man in einen theaterartigen unterirdischen Jugendstil-Raum mit Bar, wo gewiß keiner der herangeschleppten Stühle dem anderen gleicht. Dieses in der Zwischenkriegszeit als ein Zentrum der jüdischen Gemeinde errichtete Gebäude stand jahrzehntelang unter Wasser, ehe es vor drei Jahren von der Linhart Foundation übernommen wurde. Hinter diesem Namen verbirgt sich nicht etwa irgendein Exilmillionär, sondern der allseits bekannte Protagonist eines tschechischen Kinderbuches, ein kleiner fliegender Elefant. 1987 hatten einige angesehene Personen diese Stiftung gegründet, um ein Forum für ökologische und auch kulturelle Fragen zu schaffen.

Als ein »offenes Kulturhaus« für junge Leute arbeitet die Einrichtung, so Betreiber Tomas Zizka, von bürgerlichem Beruf Assistent am Prager Theater- und Filminstitut, in den Bereichen Musik, Bildende Kunst, Theater und Film. »Wir wollen den jungen Leuten einfach Sinnvolles anbieten, denn sie finden sich nur schwer zurecht mit der neuen Ideologie, wo es nur noch darum geht, zu zeigen, was man alles besitzt«, sagt Zizka. Dies sei allerdings nicht so leicht, meint er, denn die Solidarität unter den Leuten, die auch vornehmlich gegen das ehemalige Regime gerichtet war, verschwindet zusehends. Mit der Unterstützung durch ehemalige Freunde, die ins Geschäftsleben eingestiegen sind, rechne er immer weniger. Die Kultur wird es wieder einmal denklich schwer haben am freien Markt.