märz 1996

Birgit Feusthuber

»Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel.«

Heiner Müllers Herzstücke - eine persönliche Erinnerung

An einem Abend im Dezember 1988 bin ich Heiner Müller begegnet. Im Verlauf unseres Gespräches drückte er mir etwas in die Hand. Seit diesem Zeitpunkt klebt Heiner Müllers Herz auf meiner Schreibmaschine. Es ist klein, mit durchsichtigem Tixo befestigt, aber nach all den Jahren leuchtet es noch immer sehr rot auf dem weißen Untergrund.

Die Schreibmaschine wurde mittlerweile im Schrank verstaut, Computer, Drucker und sonstige Zugeständnisse an die Anforderungen der Zeit verdrängten das Fossil. Manchmal, bei seltenen Aufräumeaktionen, in denen mir die Maschine im Weg ist, fällt mein Blick auf das Herz.

»Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war«, sagt Ophelia in Müllers »Hamletmaschine« und, lachend, »Willst du mein Herz essen, Hamlet«. »Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen« fragt Figur Eins in »Herzstück«. »Wenn Sie mir meinen Fußboden nicht schmutzig machen« antwortet Zwei.

»Eins Mein Herz ist rein

Zwei Das werden wir ja sehn.

Eins Ich kriege es nicht heraus.

Zwei Wollen Sie daß ich Ihnen helfe.

Eins Wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Zwei Es ist mir ein Vergnügen. Ich kriege es auch nicht heraus.

Eins heult.

Zwei Ich werde es Ihnen herausoperieren. Wozu habe ich ein Taschenmesser. Das werden wir gleich haben. Arbeiten und nicht verzweifeln. So, das hätten wir. Aber das ist ja ein Ziegelstein. Ihr Herz ist ein Ziegelstein.

Eins Aber es schlägt nur für Sie.«

Heiner Müllers Herz, jenes, das mir zuteil wurde, ist aus Papier, sinnigerweise. Herzen aus Papier schlagen nicht, können nur von einer Hand in die nächste, vor Aufregung verschwitzte, gedrückt werden, in einer überdrehten Theaternacht in der Kantine des Berliner Ensembles beispielsweise.

Es war der Abend der Premiere von »Germania. Tod in Berlin«, die ganze (östliche) Stadt war plakatiert mit riesigen Buchstaben, eine Sensation bahnte sich an. 1956 waren die ersten Szenen enstanden. Zweiunddreißig Jahre später mußten die DDR-Oberen die Aufführung zulassen, der Deckel des Drucktopfes hatte sich zu heben begonnen: Vorwendezeit, man wußte es nur noch nicht. Fritz Marquardt führte Regie in Müllers fulminantem Abgesang auf die deutsche Geschichte, in dem Germania aus dem schwangeren Goebbels das neue Volk per Zangengeburt ans Tageslicht zerrt, in dem der Nazi und der Kommunist in der selben DDR-Zelle sitzen und der Maurer Hilse, vom Krebs zerfressen (»Wir sind eine Partei, mein Krebs und ich«), seine Visionen von roten Fahnen über Rhein und Ruhr ins Gesicht der Prostituierten flüstert, die er für Rosa Luxemburg hält.

Am Ende sagt das Mädchen: »Manchmal hören wir die Kinder spielen. Sie spielen Maurer und Kapitalist. Hilse lacht: Und keiner will der Kapitalist sein. Mädchen: Ja. Der Herzton hat aufgehört. Stille.«

Stille, eine atemlose Stille stapelte sich im Saal des Berliner Ensembles, sehr lange in meiner Erinnerung, bevor der Applaus schließlich einsetzte. Die Sensation jedoch blieb aus. Aufgrund der langen Verbotszeit hatte das Stück seine schärfsten Spitzen verloren, der Wille zur produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen sozialistischen Geschichte war im dumpfen Stagnieren der DDR-Auslaufzeit zerbröselt: »Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel«.

1988 war nicht mehr klar, wer noch Maurer sein wollte, und wer endlich Kapitalist. Die Kinder, die heute in Deutschland spielen, spielen nach anderen Regeln. Und Heiner Müllers Herzton hat aufgehört, auch er schien in der Zeit vor seinem Tod eine Partei gegründet zu haben mit seinem Krebs. Darauf war Verlaß, da gab es keine Enttäuschung, auch wenn er schrieb: »Ich rauche zuviel/ ich trinke zuviel/Ich sterbe zu langsam.«

An jenem Abend im Berliner Ensemble war er guter Dinge, er scherzte, wurde seinem Ruf als wandelndes Anekdotenreservoir wieder einmal gerecht. Im Deutschen Theater lief pa-rallel unter seiner Regie »Der Lohndrücker«, die langen Jahre der Ächtung des unbequemen Denkers schienen der Vergangenheit anzugehören. Seine anderen Stücke, von Stasi-Leuten in ihren intelligenten Listen neben anderen als »Ödebus«, »Hirakles« oder »Filoptät« legasthenisch umgeformt, hatten Müller als wichtigsten deutschen Dramatiker seit Brecht ausgewiesen. Brecht, Shakespeare, Hölderlin, Kleist, die antiken Mythen - das war das Material, aus dem er seine Geschichtskatastrophen-Szenarien auf die Bühne schleuderte, in seiner unverwechselbaren Sprache die Barbarei ausstellend, die das Leben so vieler Menschen gerade in diesem Jahrhundert verwüstet hat. In den letzten Jahren versuchte er als Intendant das »Brecht-Museum« Berliner Ensemble zu einem vitalen Ort für sozialistische Klassik umzugestalten. Eines der größten Theaterereignisse Berlins war zugleich seine letzte Regiearbeit: Brechts »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« läuft mit unvermindertem Erfolg. Zurecht wurde Martin Wuttke für die Titelrolle zum besten Schauspieler des Jahres 1995 gekürt: Der Atem stockt jeder/jedem angesichts dieses fleischgewordenen Hakenkreuzes. Er und das hochkarätige Ensemble reißen das Publikum nach jeder Aufführung zu standing ovations hin. Und es ist ein positives Signal, daß der Dreiunddreißigjährige vor kurzem zum neuen Intendanten des BE ernannt worden ist. Die Lücke jedoch, die Heiner Müllers Tod aufgerissen hat, wird weiter klaffen. Nicht nur das deutsche (links-)liberale Feuilleton beklagte den Verlust des »letzten kommunistischen Intellektuellen«, der nach der Wende ins Gerede gekommen war aufgrund seiner Stasi-Kontakte. Heiner Müller, der Provokateur: Gern erzählte er die Geschichte vom Bettler, vor dem er sich seine dickste Zigarre anzündet, damit dessen Zorn auf die Verhältnisse geweckt würde und damit Baudelaires Schrift »Nieder mit den Armen« als indirekten Aufruf zum Aufruhr zitierte. Der von Charlie Chaplin als »bösem Engel« sprach und damit sich selbst meinte. Heiner Müller, der Taktierer, der »schizophrene« Pragmatiker: »Ich rede mit jedem, wenn ich es für notwendig und praktisch halte.(...) Man konnte viel mehr Schaden anrichten, wenn man indirekt mit der Staatssicherheit geredet hat. In der Theaterkantine, wo man unkontrolliert über Kollegen redet. Die direkten Gespräche waren kontrollierte Gespräche.« Kontrolliert und sehr ruhig, ja sanft - diese Bezeichnung trifft den Eindruck, den man im persönlichen Gespräch mit ihm hatte. Damals, an jenem Abend, an dem ich Heiner Müller das erste und letzte Mal begegnete, fragte er mich, wie es eine österreichische Germanistin in die DDR verschlagen konnte. Ich erzählte ihm von meinem Drei-Monatsstipendium, meiner Arbeit über Peter Weiss. Heiner Müller lächelte: »Die ðÄsthetik des Widerstands« ist ein großes BuchÐ - unverkennbar aber blieb die Distanz. Das von Peter Weiss immer wieder beschworene »Und dennoch«, das immer wieder verzweifelte Aufbäumen gegen die Katastrophe der Geschichtsverläufe erschien Müller als »mönchische Haltung zur Utopie«.

Aber den Schrecken kenntlich machen, den Opfern der Barbarei eine Stimme verleihen - quer durch die Jahrtausende: Hier kommen sich die Schultern des »Mönchs« und des »Maskenträgers« letztendlich doch nahe. Und das nahezu besessene Abarbeiten an der deutschen Gewalt-Geschichte: Dies läßt sich schlußendlich nur denken als wütendes Anschreiben gegen die Zerstörung einstiger Traumlandschaften.

Utopie heißt denn auch bei Heiner Müller die »wilde Liebe« für das fehlgeschlagene Projekt sozialistisches Deutschland:

Eine Liebe, »wild wie die Umarmung einer totgeglaubten/Herzkönigin am Jüngsten Tag«.