mai 1996

GastautorIn

Angst und Sehnsucht

Anmerkungen zu vier Internet-Mythen

Die Erfindung und Verbreitung neuer Medien immer mit Sehnsüchten und Ängsten verknüpft.

Das gilt auch für das Internet.

1. Der Mythos vom universalen Wissen

Mit dem Internet verfügen wir über eine riesige Menge an Informationen. Damit, so heißt es, steigt unser Wissen über die Welt. Hier ist vor allem der Begriff der Information irreführend. Dieser stammt aus der Nachrichtentechnik und bezeichnet die Erkennbarkeit eines Signals. Mit Sinn oder Wissen hat Information hier noch nichts zu tun. In der heutigen Verwendung ist der Begriff »Information« allerdings mit Bedeutung aufgeladen worden, und »viele Informationen zu haben« ist gleichbedeutend mit »viel wissen«. Diese Verwendung des Informationsbegriffs unterstützt ideologisch diejenigen, die ein (ökonomisches) Interesse daran haben, die neuen Medien zu verbreiten. Denn das Internet steigert wirklich die Menge an verfügbaren Informationen, allerdings im nachrichtentechnischen Sinn. Unser Wissen steigt aber nicht einfach mit der Menge an Zeichen, über die wir verfügen können, denn diese müssen erst entziffert, verstanden und in Zusammenhänge gebracht werden. Und damit ist noch gar nichts darüber gesagt, daß die digital gespeicherten und vernetzten Informationen nicht wirklich frei verfügbar sind, daß wir gegenwärtig viel mehr an einem Zeichenüberfluß statt an einem Zeichenmangel leiden, und daß das zentrale Problem des Wissens in der modernen Gesellschaft die steigende Wissenskluft zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten ist.

2. Der Mythos von der herrschafts- freien Kommunikation

Das Internet, so heißt es, ist ein Medium, in dem gleichberechtigt alle mit allen kommunizieren können. Traditionelle Hierarchien verschwimmen in der Egalität des Netzes. Bislang haben vor allem Universitätsangehörige und Computerfreaks via Internet kommuniziert, und diese verallgemeinern jetzt ihre Erfahrungen zu Eigenschaften des Mediums an sich. Doch unterliegt jedes Medium, das auf einem technischem System basiert, der Logik dieser Technik und den Interessen derjenigen, die über diese Technik verfügen. Über die Voraussetzungen, die Kommunikation via Internet ermöglichen, über Normen, Standards, Software und Hardware entscheiden keine aufgeklärten politischen Diskurse, sondern die Profitinteressen der Geräte- und Softwarefirmen. Solange die Produktionsmittel in deren Händen sind, sollten nicht allzu viele politische Utopien in das Internet projiziert werden. Außerdem ist der Zugang zum Internet durch eine Anzahl finanzieller - und Bildungsschranken so begrenzt, daß es nach wie vor nur von einer Elite benützt werden kann.

3. Der Mythos vom Porno-Net

Das Internet, so heißt es, gefährdet die Jugend und die Moral, da es Pornographie verbreitet. Die Ängste, daß durch ein neues Medium alle moralischen Schranken durchbrochen werden und eine Flut von Schmutz und Schund sich über die Welt ergießt, sind bereits bei der Erfindung des Buchdrucks, beim Film und beim Fernsehen verbreitet worden. Die Angst vor dem Neuen multipliziert sich mit der Angst vor den unterdrückten Trieben zu einem irrationalen Bedrohungsbild. Wer regelmäßig das Internet benützt, wird so gut wie nie auf Pornographisches stoßen, wenn er/sie nicht gezielt und versiert danach sucht. Wer unbedingt pornographische Bilder, Töne und Texte haben will, braucht nur zum nächsten Kiosk oder in den nächsten Videoladen gehen. Und das gilt auch für die vom Internet angeblich besonders gefährdeten Jugendlichen und Kinder. Es findet sich immer ein älterer Bruder oder Freund, der das gewünschte Material besorgt. Außerdem verdeckt der moralische Aufschrei über Pornographie im Internet, daß das Problem Pornographie ja nicht darin liegt, daß es derartige Bilder, Töne und Texte gibt, sondern im gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität, der solche Bedürfnisse entstehen läßt.

4. Der Mythos vom Untergang des Buches

Das Internet und andere elektronische Medien, so heißt es, verdrängen das Buch. Die Angst, daß mit der Verbreitung eines neuen Mediums die vertrauten Medien verdrängt werden, taucht in der Mediengeschichte immer wieder auf. Seit Jahrzehnten wird der Untergang des Buches vorausgesagt. Seit Jahrzehnten steigt die Zahl der gedruckten Bücher. Im Zeitraum von 1975 bis 1990 wurde genausoviel publiziert wie im gesamten Zeitraum davor bis zurück zur Erfindung der Schrift. Zweifellos verliert das Buch seine Funktion als Leitmedium der abendländischen Kultur. Es verschwindet aber nicht, sondern erhält neue Funktionen. Gerade in einer Medienwelt, die durch Beschleunigung, kurze Wahrnehmungseinheiten und Geschichtslosigkeit geprägt ist, kann das langsame, auf Vorstellung und Reflexion abzielende Medium Buch neue Bedeutung erlangen, eben weil es anachronistisch ist.

Die Funktion dieser und ähnlicher Mythen liegt darin, daß sie gesellschaftliche Prozesse zu allgemeingültigen und unausweichlichen Vorgängen umdeuten und damit den Blick auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderungen verstellen, die neue Medien wie das Internet bewirken.

Günther Stocker ist Literatur- und Kommunikationswissenschafter, derzeit am Telekom-Research-Zentrum Salzburg und als Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg tätig.