mai 1996

Anton Gugg

Glanz und Elend eines aristokratischen Erbes

Die Salzburger Osterfestspiele erlebten ihre 30. Auflage

Oper ist und bleibt eine »Mangelkunst«. Das allerorten verzweifelt herbeigewünschte Gesamtkunstwerk, das oft als Gipfel abendländischer Kulturentwicklung gesehen wird, ist zweifellos die triumphale Hochzeit von Sinn und Sinnlichkeiten aller Art. Klang, Text und Bild prunken seit barocken Zeiten als Dreifaltigkeit des Erfahrbaren, wobei die Kinder der raffinierten Künste-Vermengung seit jeher mehr oder weniger das Licht der Bühnenwelt erblicken - und der Mangel der Realisierung den ideellen Anspruch der Kunsteks-tase ins Lächerliche zerrt.

Glanz und vor allem Elend alles Gesamtkunstwerklichen müssen einen Absolutisten und Generalisten wie Herbert von Karajan gleichermaßen gefordert und zum wirklichkeitsverachtenden Akt der Gründung eines alleingestalteten Festivals gedrängt haben. 1966 war es soweit: Endlich gab es ein Opern-Märchenreich, in dem die Sonne gesamtkunstwerklicher, »diktatorischer« Anmaßung nicht unterging. Mochte auf den Bühnen der normalsterblichen Opernwelt das Kunst-Kronjuwel Oper zwischen den Mühlsteinen der vielfach zwangsgebremsten Verwirklichung zerrieben werden und hundert Köche den Brei verdorben haben - auf Karajans privatwirtschaftlich abgesicherter österlicher Monsterspielwiese konnte sich der musikalische und gestalterische Alleinherrscher mit seinen Erfüllungsgehilfen der wunderbaren Vision hingeben, ein vollkommen individuell geschneidertes Idealmodell des Musikdramas vor allen Fremdströmungen bewahren zu können.

Die Osterfestspiele als ganz und gar von Beeinflussungen und Hindernissen gereinigtes und befreites Hochglanzprodukt für den ganz und gar geneigten Freundeskreis schwerbetuchter Liebhaber: Vor Karajan haben nur Königs- und Fürstenhöfe solch elitäre Höhen des Kunstkonsums garantiert, und nach Karajan mußte notgedrungen der Absturz der geschlossensten aller Salzburger Opern-Hofhaltungen in wirklichkeitsnähere, gesellschaftsbedingtere Verhältnisse erfolgen, die ohne die mystische Anziehungskraft eines omnipotenten Kultstars auszukommen haben.

Der einzigartige Sonderstatus der Osterfestspiele als restlos autarke, solistische Opern- und Konzert-Manufaktur für eine quasi handverlesene Klientel konnte schon zu Lebzeiten des Maestro nicht aufrecht erhalten werden. Allerdings dürfte unter Karajans seligem Wirken die Annäherung zwischen Sommer- und Osterfestspielen ein wahres Kinderspiel gewesen sein im Vergleich zur »Ehekrise« der Festivals, seit Gérard Mortier den Sommer dirigiert und Claudio Abbado den schnell abgedrängten österlichen Inter-mezzo-Regenten Sir Georg Solti endgültig abgelöst hat.

Karajan kam, sah, ließ zahlen und entschied für beide Festspiele. Seine konkurrierenden, von Bevormundungsängsten geplagten Erben haben verschiedene Geschmäcker und unterschiedliche Interessen zu vertreten und gerieten sich dann auch schnell in die Haare. Streitobjekte waren zuletzt »Elektra« und »Otello«, und schließlich erfolgte nach Jahren versöhnlicher Lippenbekenntnisse die Scheidung. Mortier bleibt Mortier, und Abbado hat Produktionspartner in Italien gefunden.

Geblieben vom weihevollen Glanz der »splendid isolation« Karajans, zu dessen Aufführungen die Anbeter mit gnadenhungrigen Mienen in Erwartung des Göttlichen pilgerten, ist nur der Mythos des Unvergleichlichen - oft genug in Karajans krisenschwangeren, selbstherrlichen Abgesangs-Jahren selbst eine Fiktion. Die Berliner Philharmoniker, »Familie« unter Karajans Knute, haben ihre einstige Klasse verloren und lassen wieder merken, daß sie kein genuines Opernorchester sind. Warum sie unbedingt in Salzburg Festspiele machen müssen, ist nach dem Fallen des Eisernen Vorhanges wahrscheinlich auch dem Berliner Senat nicht mehr so einsichtig wie vor zwanzig, dreißig Jahren, als ihr Engagement noch etwas mehr bedeutete als die Garantie eines musikalisch unvergeßlichen »Rings«, eines »Tristan« oder der »Meistersinger«.

Zeiten ändern sich, politische Hintergründe wechseln, neue Bedingungen erzeugen Druck. Der Stützungswille der Karajan-Erben und die Zusammenarbeit mit Turin reichen nicht mehr aus, das Festspielboot flott zu halten, erstmals haben Stadt und Land Salzburg je eine Million zugesteuert, um die moderne Leiste der »Kontrapunkte« auch weiterhin zu ermöglichen. Die so gern herausgestellte Subventionsfreiheit des Festivals ist spätestens jetzt nicht mehr die lupenreinste.

Das sollte die Konsumentenschar weniger schmerzen als der Verfall des einstigen, oft belächelten Luxus-Opernprodukts aus Karajans tyrannischen Händen zur »Mangelkunst« in der gängigen Produktionsteilung zwischen einem Regisseur und einem Dirigenten. Jüngstes Beispiel ist Verdis »Otello« in Ermanno Olmis Null-Regie und in einem Bühnenbild-Einheitsgehege, das zum Ärmlichsten gehört, was je Opernhandlung fixieren mußte. Beinahe mit Scham erinnert man sich an den einstigen Spott über Karajans flaches, stereotypes Schautheater in opulenten Breitwandkulissen.

Der geheime Opernalltag mit seinen Nöten, Zwängen und mittelmäßigen Ergebnissen hat die einst leuchtende Wallfahrtstätte der Reichen, Schönen und Wichtigen endgültig eingeholt, und aus dieser »Misere« befreit auch nicht das Engagement einer italienischen Regielegende und der Altstars Domingo und Raimondi. Das Überleben in kunst- und kultfeindlichen Zeiten ohne Hochkultur- Götzendienste ist den Osterfestspielen wohl gelungen. Der Lack jedoch ist zum dreißigsten Geburtstag des Festivals abgeplatzt, was den Genuß der Sache keineswegs preiswerter macht.