mai 1996

Thomas Neuhold
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»Kapitalismuskritik ist so notwendig wie noch nie«

Johannes Voggenhuber, Spitzenkandidat der Grünen bei den Wahlen zum Europaparlament im Herbst, über die EU-Wahl, die Währungsunion, grüne Defizite und Salzburg als europäische Kulturhauptstadt

Herr Voggenhuber, noch im November vergangenen Jahres haben Sie erklärt, nicht bei der EU-Wahl anzutreten, weil Sie doch in Wien viel mehr bewirken könnten. Wodurch ist dieser Meinungsumschwung zustande gekommen?

• Im Wesentlichen durch das Wahlergebnis. Meine Auffassung war, daß die Europapolitik noch immer mehr in den nationalen Hauptstädten gemacht wird als im europäischen Parlament. Vor allem vor dem Hintergrund, daß das österreichische Parlament eine einzigartige Mitbestimmungsrolle hat, von der Information bis zum imperativen Mandat gegenüber der Regierung. Bei der Wahl haben aber die zwei großen Parteien die Zweidrittelmehrheit zurückgewonnen. Darüber hinaus gibt es eine Absprache zwischen SPÖ und ÖVP, die Europapolitik als ÖVP-Domäne zu betrachten. Nachdem die ÖVP schon bisher alles getan hat, die Anbindung des Parlaments zu sabotieren, ist da nicht mehr wirklich eine echte Chance, so einen Einfluß auszuüben, wie wir das zum Teil getan haben. Dann kommt dazu, daß so ein Wahlverlust ein spürbarer Gewichtsverlust in allen Gremien ist, wo es um wirklichen politischen Einfluß geht.

Und man hat mich vielfach gedrängt, diese Spitzenkandidatur zu machen, weil die Grünen nach dieser Wahlniederlage einfach die nächsten zwei Wahlen, die Wiener Kommunalwahl und die Europawahl, nutzen müssen, um sich politisch zu rehabilitieren.

Wie stehen die Chancen bei den EU-Wahlen?

• Die Chancen richten sich immer nach dem Ziel. Die 4,8 Prozent zu übertreffen, ist realistisch. Das zweite Mandat würde dann schon 9,6 Prozent kosten. Ich versuche es.

Die Stimmung im Land ist für EU-kritische Parteien nicht schlecht. Der Erfolg des Neutralitätsvolksbegehrens war ja kein EU-freundliches Votum.

• Ich betrachte das Neutralitäts-Volksbegehren als vergebene Chance und als ein personell und strömungspolitisch hochfragwürdiges Unternehmen. Das hat doch einen deutlichen rechten Touch, mit einem sehr nationalistischen Grundton und auch ein paar dubiosen Führungsfiguren. Man kann Themenallianzen eben nicht mit jedem machen . Das ist in einer so destabilisierten Situation wie in Österreich gefährlich, weil das Geister aus der Flasche läßt, die man schwer zurückbekommt.

Die Frage der EU-Stimmung im Land ist in Wahrheit eine viel, viel schwierigere. Natürlich signalisieren uns die Umfragen, daß wir etwa 60-65 Prozent unter den Menschen haben, die heute einen EU-Beitritt nicht mehr befürworten würden. Aber da gibt es widersprüchliche Entwicklungen, wenn man gleichzeitig sieht, wie die Strategie der Regierung, an kleinbürgerliche Instinkte zu appelieren, voll aufgeht: Gürtel enger schnallen, alle müssen sparen.

Wir haben, im Grunde genommen, zwei Schwierigkeiten: Die EU-Euphorie auf der einen Seite, die die ganze politische Klasse erfaßt hat, die in Wirklichkeit weniger eine Euphorie ist, sondern ein großer Konsens der politischen Klasse, den Wirtschaftsliberalismus durchzusetzen. Auf der anderen Seite die rechte Demagogie, die, wie man zum Beispiel bei der Kritik Haiders an der Währungsunion sieht, keine soziale Dimension hat. Zwischen diesen Lagern eine sehr gesellschaftskritische, pointierte Position erfolgreich zu machen, ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick ausschaut.

Diese ganze Verunsicherung und diese ganze neokonservative Grundwelle, die die Gesellschaft erfaßt, hat zwar viel Zorn, viel Unmut, viel Protesthaltung geweckt, aber eine sehr destruktive. Deshalb glaube ich, daß es nicht so einfach sein wird zu verhindern, daß Haider mit irgendeinem demagogischen »Zerschlagt-die-EU«-Kurs dieses brodelnde Protestlager an sich bindet.

Das Dilemma ist doch, daß die Grünen sehr ehrlich sagen: Kein Austritt! Gleichzeitig hat aber das eigene Klientel zu einem hohen Maße ziemlich die Schnauze voll.

• Unser Vorteil ist eine hohe Kompetenz und hohe Glaubwürdigkeit, auch im Ansehen der Bevölkerung. Wenn man sich erinnert, wer welche Themen vor der Volksabstimmung zur zentralen Auseinandersetzung gemacht hat: wir die Demokratiefrage, die Sozialfrage, die ökologische Frage, Währungsunion, die Frage des Militärpaktes in Europa, der Festung Europa, Europol, Schengen, Landwirtschaft, Verkehr, Mobilität, Energie... Heute gibt uns die Bilanz recht. Damals aber waren wir noch Fundamentalisten und Ayatollahs. Haider hingegen ist mit unglaublich demagogischen Positionen in die Volksabstimmung gegangen, und ihm hat eigentlich bis heute nichts recht gegeben. Daraus resultiert schon ein gewisser Bonus an Glaubwürdigkeit und Kompetenz.

Sie schreiben im Vorwort zum Europamanifest die sehr positive Einschätzung, die EU sei veränderbar. Was können denn grüne Parlamentarier in Straßburg erreichen?

• Worauf ich versuche hinzuweisen ist, daß dieses Projekt mit all seiner Macht und seinen ökonomischen Interessen und der Masse an machtpolitischen Interessen in keinem seiner Mitgliedsländer die Mehrheit hat; es hat für seine großen Projekte - Militärpakt, Währungsunion, weitere Zentralisierungen, bei weitem keine Mehrheiten...

...aber in jedem Mitgliedsland die übergroße Mehrheit der politischen Kaste.

• Nur, das Auseinanderdriften der politischen Klasse einschließlich Medien und der Bevölkerung kann auf die Dauer nicht gutgehen. Überall in den Ländern herrscht ja eine Art Revanchestimmung. Es ist höchst fragwürdig, ob Schweden 1998 noch in der EU ist. Dort formiert sich eine Austrittsbewegung, auch in anderen Ländern gibt es soziale Bewegungen, die wiedererstehen. Wenn die Regierungskonferenz ‘96 zu Ergebnissen kommt, die irgendwo zu Referenda führen, dann werden diese mit großer Wahrscheinlichkeit negativ ausgehen. Und die Gefahr, daß die Integration dann für eine Generation stehen bleibt oder sogar rückwärts rollt, ist sehr groß. Wobei ich damit keine Hoffnungen verbinde, weil das würde das nationale und rechte Lager in Europa enorm stärken. Deshalb gibt es auch für mich keine Bereitschaft, eine Austrittsbewegung zu unterstützen.

Was kann man nun tun? Es gibt eine Form des Zusammenspiels von NGOs, Parlament, nationalen Parlamenten, die zum Teil sehr dramatische Dinge bewirken kann. Wenn ich erinnern darf an die Geschichte mit der Patentrichtlinie in der Gentechnologie. Da hat Österreichs Parlament mit einem Verdikt den Minister gezwungen, gegen dieses Patentrecht in der Gentechnologie zu stimmen. Das hat dazu geführt, daß Länder, die schon wieder vom Protest abgesprungen sind, sich wieder angeschlossen haben, und das EU-Parlament hat unter dem Eindruck der Proteste von NGOs in ganz Brüssel - mit dem österreichischen Beschluß als Kampfpapier in der Hand - im allerletzten Moment dieses Gesetz mit einer deutlichen Mehrheit vom Tisch gefegt. Es gab viele Korrekturen in der Kroatienpolitik, gegenüber der Türkei, der Zollunion...

Das zweite sind Informationen, verbunden mit Grundlagenarbeit. Einer der großen Vorteile des Europäischen Parlaments ist das Berichtswesen: Einzelne Abgeordnete erarbeiten in umfangreichen Hearings mit den besten Sachverständigen aus aller Welt, mit Betroffenen, Regierungen und NGOs zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, zu einem Konflikt einen Bericht. Das ist meistens das erste politische Papier zu einer gesellschaftlichen Entwicklung. Insofern hat man hier eine Art Vorwarnsystem, man kommt an Informationen heran, man kann die Opposition, man kann kritische Bevölkerungsteile, man kann die Öffentlichkeit, man kann NGOs, man kann die Betroffenen informieren. Die EU ist ja kein Geheimclub, sondern sehr offen. Wenn man sich nicht scheut, eine Papierallergie zu kriegen, kann man alles finden. Das wiederum ist für eine kritische Öffentlichkeit, für eine Gegenöffentlichkeit, ungeheuer wichtig. Insofern kann man sehr von Nutzen sein.

Apropos NGOs. Im Vorwort des Grünen Europa Manifestes werden »richtige Bündnisse« gefordert. Welche potentiellen Verbündeten gibt es denn noch?

• Das ist ganz wichtig. Damit verbindet sich auch eine Kritik an der Grünen Entwicklung, es ist nämlich geradezu grotesk zu sehen, wie die Grünen sich in nationale Innenpolitik einspinnen, obwohl sie durchwegs aus internationalistischen Bewegungen hervorgegangen sind: Umwelt-, Frauen-, Anti-Atom- und Dritte-Welt-Bewegung. Wenn ich dann aber vergleiche, daß die Grünen in Spanien ein völlig anderes Programm haben als in Schweden, ja in Deutschland und Österreich ganz verschiedene Programme existieren, dann glaube ich, daß die Grünen eines Tages vor den Neuen Sozialen Bewegungen als Altpartei dastehen und nicht als Avantgarde.

Weiters wird es wichtig sein, diese Bewegungen, die allesamt in einem großen Bogen ökologische oder menschenrechtliche Bewegungen sind, mit sozialen Bewegungen zusammenzubringen. Die historische Leistung der Grünen besteht nicht darin, eine andere Frage gefunden zu haben, sondern die soziale Frage durch die ökologische ergänzt zu haben, und deshalb wird für die Grünen lebenswichtig sein, ob es ihnen gelingt, die ökologischen und humanitären Bewegungen mit der sozialen Bewegung zu koppeln und auch theoretisch, programmatisch diese Annäherung zu leisten.

Aber heute bezeichnet ein grüner Bundessprecher sich selbst und seine Generation als theoriefrei; in einer Zeit, wo wir eigentlich ein Theoriedefizit haben, das uns beinahe handlungsunfähig macht, weil wir natürlich in Widersprüche geraten zwischen ökologischen und sozialen Zielsetzungen und uns so gegenseitig neutralisieren. Das beginnt schon bei der Öko-Steuer und der Frage der Pendler, also so ganz einfachen Fragestellungen. Das ist für diesen entfesselten Kapitalismus natürlich ein ungeheurer Triumph. Ich bin manchmal wirklich überrascht, daß man als Nichtmarxist erklären muß, daß heute Kapitalismuskritik so notwendig wie noch nie ist. Dabei dürfte irgendwo noch für das einfachste Gemüt erkennbar sein, daß diese Entfesselung da ist und daß alle kulturellen, humanitären, demokratischen, sozialen Konsense abgeworfen werden. Da finde ich es einfach zynisch, peinlich und dumm, die Kapitalismuskritik ausgerechnet heute abzustreifen.

Zurück zum Manifest: Welchen Charakter hat dieses? Es ist jetzt beschlossen, ist es quasi Teil des Parteiprogramms, ist es ein Wahlprogramm?

• Es ist ein Wahlprogramm. Manifest heißt es deshalb, weil es weniger darauf zielt, in allen Sachgebieten alle Details vorzuschlagen und sich in allen Sachfragen zu verlieren, sondern sich der Analyse und Kritik des europäischen Integrationsprozesses zu widmen: Zentralisier- ung, Bundesstaatsentwicklung, diskrete Integration, Verfall von Grund- und Bürgerrechten, Verfall von demokratischen Prinzipien, Auflösung von republikanischen, verfassungsstaatlichen, rechtsstaatlichen Errungenschaften, die Entwicklung zum Militärpakt mit der Verschmelzung zur NATO...

Die Währungsunion nimmt einen sehr prominenten Platz ein. Die Engländer werden, aller Voraussicht nach, über eine gemeinsame Währung abstimmen. Was wird in Österreich passieren?

• Ich glaube nicht, daß es in Europa Abstimmungen über die Währungsunion geben wird. Das ist ein Waffengeklirr. Man darf auch nicht vergessen, daß die Engländer die Wäh- rungsunion bereits unterschrieben haben und es nicht mehr zulässig ist, darüber eine Volksabstimmung durchzuführen. Nur der deutsche Bundesverfassungsgerichtshof hat diese Option eigentlich als einziger Verfassungsgerichtshof eröffnet.

Das Zweite ist die Frage der Währungsunion in Österreich. Also hier schließe ich mich nicht der Forderung einer Volksabstimmung an, weil es nicht genügen würde, die Währungsunion einfach nur einzustampfen. Eine Währungsunion an sich wäre gar kein Übel. Das unglaubliche Übel sind erst einmal die Konvergenzkriterien, die mit einer Währungsunion auch nichts zu tun haben. Kein Ökonom würde sagen können, daß Gesamtverschuldung oder Nettodefizitquote etwas mit einer Währungsunion zu tun haben. Das ist ein Mittel, eine neokonservative, wirtschaftsliberale Politik auf Kosten der sozialen Sicherheit, der ökologischen Standards und auch des Wachstums durchzusetzen.

Wir sprechen uns in diesem Manifest aber auch sehr bewußt für eine Verschiebung aus, weil eine Währungsunion Voraussetzungen braucht, die sie derzeit nicht hat. Die Hauptschwierigkeit einer Währungsunion, sind diese berühmten externen Schocks. Nehmen wir den Tourismus: Da wird sicher die Mittelmeerküste wesentlich härter von einer Krise getroffen als Deutschland, Frankreich, England. Bisher konnten aber diese Länder durch Abwertung reagieren, durch eigene Budgetpolitik, eigene Finanzpolitik. All das wird bei einer Währungsunion zwangsläufig zentralisiert. Bevor eine Währungsunion funktionieren kann ohne enorme soziale Verwerfungen, brauchen wir einen europäischen Bilanzausgleich und einen Sockel sozialer Sicherheit bei der europäischen Arbeitsversicherung und europäische Altersversorgung.

Volksabstimmung ja oder nein?

• Wenn die Währungsunion so durchgepeitscht werden soll, wie sie derzeit ist, dann bin ich für eine Volksabstimmung und für ein Nein bei der Volksabstimmung. Ich würde das allerdings für den letzten Ausweg halten. Was uns gelingen sollte, vielleicht auch unter dem Druck einer solchen Ankündigung, ist, eine Reform der Währungsunion zu erzwingen. Wenn ich die europäische Debatte überblicke, schaut es nicht so schlecht aus. Es gibt hervorragende Ökonomen, die die Kritik teilen, es gibt soziale Bewegungen, die Gewerkschaften fangen langsam an, unter dem Druck ihrer Mitglieder aufzuwachen.

Auffallend am Grünen Papier ist, daß Kultur und Kulturpolitik nicht vorkommen. Gerade hier ist das Defizit bei den Grünen aber schon seit Jahren sattsam bekannt.

• Ich will diese Kritik verschärfen. Wir Grüne sind einfach weit davon entfernt, eine echte, auch intellektuelle Avantgarde zu sein und mit der intellektuellen Avantgarde dieses Landes auch wirklich zu kommunizieren. In diesem Punkt könnten Sie mir jetzt vorwerfen, die grüne Ursünde im Manifest selber zu begehen. Ich habe das bewußt so getan, weil ich nicht glaube, daß es eine europäische Kulturpolitik geben sollte.

Andere probieren diese Kulturpolitik auf europäischer Ebene aber sehr wohl. Stichwort: European Art Forum...

• ... das ist doch eine recht konventionelle Geschichte der Kulturolympiaden und hat im Grunde kommerzielle Aspekte. Auch die Projekte der Kulturhauptstädte Europas sind derzeit im wesentlichen Tourismusprojekte de luxe.

Ich arbeite zur Zeit an einer Analyse, wie weit man Salzburg zu einer Kulturhauptstadt Europas machen kann, wie die Chancen, die Möglichkeiten stehen. Ich halte das nur nicht für eine europäische Kulturpolitik - vielleicht sollte man das in einem Manifest ausdrücken.

Wie weit ist die Analyse der »Kulturhauptstadt Salzburg«?

• Die Hauptschwierigkeit in meiner Recherche in dieser Frage sind eigentlich die landespolitischen und kommunalpolitischen Verhältnisse in Salzburg selbst. Hier frage ich mich, wo die politischen und intellektuellen Ressourcen für so ein Projekt sind? Wenn wir Antwerpen oder Kopenhagen anschauen, sind das schon Vorhaben, die eine Größenordnung haben, die nicht von schlechten Eltern ist. Ich frage mich, wer könnte mein Ansprechpartner sein?

Gibt es da bei Johannes Voggenhuber einen Trend zurück nach Salzburg?

• In Salzburg sind Kommunal- und Landespolitik eine rabiat-kleinbürgerliche Politik geworden, daß ich mir praktisch die Kronenzeitung als Politbüro des Magistrats und der Landesregierung vorstelle. Das ist enervierend und enttäuschend. Wenn ich nach Salzburg zurückkehre, dann nur als Bürgermeister.

Danke für das Gespräch!