mai 1996

Ludwig Laher
wenn und aber

Plädoyer für den Kindesentzug

Ich glaube von Hanna Dieder Hüsch stammt das Bonmot von der »Analyse dieser Krise«, welche unweigerlich die »Krise dieser Analyse« zur Folge hätte. Was Hüsch in den Siebzigern festmachte, gilt erst recht in den disparaten Neunzigern. So weit, so gut. Also, müßte man sich denken, eine Zeit für den Diskurs und ein Publikum dafür. Und betont Sachliches, erfrischend Ironisches, virtuos Sprachbewußtes, schmerzlich Polemisches, vielsagend Kryptisches, Gutes und Gutgemeintes, Unterstützens- und Verdammenswürdiges usw. und so fort müßten vor lauter Myzel sprießen sprießen sprießen.

Wie Schwammerln aus dem Boden schießen indes nicht nur Publikationen, TV-Sender, virtuelle Welten zum Suhlen in der unerträglichen Seichtigkeit des Seins, sondern auch jede Menge Reservate jeweils politisch korrekter Schrebergartengesinnung. Die jeweiligen Exegeten dogmatischer Schriftenkonvolute oder mündlich überlieferter Codices ekeln sich bisweilen vor den Zensurscheren in ihren Händen und fordern die präventive Vorzensur in den kranken Gehirnen Andersdenkender.

»Der gläubige Durchschnittsmensch Tiroler Prägung könnte in seinen religiösen Gefühlen beleidigt werden«, hieß es zur Begründung der gerichtlichen Einziehung eines Kunstwerks nicht vor neunzig, sondern vor neun Jahren in Innsbruck. Was als letztes Aufbäumen einer versinkenden Welt erschien, feiert allenthalben fröhliche Urständ. In allerlei Mäntelchen. Die spannende und wichtige Debatte, ob, wie und wann in demokratischen Diskussionsforen wie dem Internet Zensur und Verbot legitim sind, muß geführt werden. Wo aber selbsternannte Moralwächter aller Coleurs im Zuge solcher Diskussionen vorpreschen, um das Kind mit dem Bad auszuschütten, muß man ihnen das Kind rechtzeitig wegnehmen.