august 1996

Thomas Neuhold
leitartikel

Armut: Wirtschaftspolitik ohne Moral

Kinder, die bettelnd das Einkommen ihrer Familien bestreiten, Mütter, die mit ihren Kleinkindern in schimmligen Baracken hausen, Alte, die von Mülltonne zu Mülltonne ziehen auf der Suche nach Eßbarem... Diese beschämenden Bilder stammen nicht etwa aus südamerikanischen Slums oder einem Bukarester Vorort. Nein, diese Bilder sind westeuropäische - täglich, millionenfach in jedem der 15 EU-Staaten.

Ruth Brand, Präsidentin des »European Anti Poverty Network«, schätzt die Zahl der Armen und sozial Ausgegrenzten in der Union auf 55 Millionen Menschen, davon rund drei Millionen Obdachlose. Nur um die Dimension begreiflich zu machen: 55 Millionen Menschen, das ist beinahe ganz Westdeutschland; drei Millionen Obdachlose, das entspricht der doppelten EinwohnerInnenzahl von Wien.

Es bedarf keiner ausgeprägten sozialrevolutionären Gesinnung, um allein an diesen Zahlen die soziale Spaltung Europas ablesen zu können. Selbst der deutsche Bundespräsident Roman Herzog warnte angesichts des deutschen Sparpaketes vor einer »sozialen Schieflage«. Hauptbetroffene auch in der BRD: Kinder, Jugendliche, Frauen, Familien, Rentner und Arbeitslose.

Parallel zu der um sich greifenden Armut in der EU steigt die Produktivität in ungeahnte Höhen. Nach einer Schätzung des Wiener Ökonomen Kurt Rothschild hat sich die Produktion in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Das Durchsickern des Reichtums nach unten, wie es liberale Wirtschaftstheorien prognostiziert haben, hat nicht stattgefunden.

Damit stellt sich aber die Frage nach der Legitimation der rein monetaristischen Wirtschaftspolitik in der EU. Maastricht und die Währungsunion kennen - wie an der Vollziehung über das österreichische Sparpaket ablesbar - keinerlei Wohlfahrtsziele. Es ist natürlich in erster Linie eine wirtschaftliche und politische Frage, wie Europapolitik, Währungsunion und Budgetpolitik, die sich zunehmend gegen die Menschen wenden, zu beurteilen sind. Die grassierende Armut hat aber auch unzweifelhaft eine moralische Dimension. Nicht zuletzt deshalb genießen gerade religiös motivierte Gruppen und Aktivisten - oft zu Recht - mehr sozialpolitische Akzeptanz als etwa die trägen Gewerkschaften.