august 1996

GastautorIn
titel

Die steigende Staatsverschuldung

Der Wirtschaftswissenschafter Stephan Schulmeister über Ursachen und Gegenstrategien

Das Problem einer steigenden Staatsschuldenquote (Relation der öffentlichen Schulden zum BIP) kann nur im Kontext der ökonomischen und politischen Entwicklung der Industriegesellschaften begriffen werden. Deshalb möchte ich im ersten Abschnitt einige allgemeine Zusammenhänge erläutern, welche für ein Verständnis dieses Problems von grundsätzlicher Bedeutung sind. Im zweiten Abschnitt werde ich versuchen, das Anwachsen der Staatsschulden aus der ökonomischen und politischen Entwicklung der letzten 30 Jahre abzuleiten. Im dritten Abschnitt möchte ich Strate-gien zur Überwindung dieses Problems skizzieren.

Budgetdefizit, Staatsverschuldung und Gesamtwirtschaft

Wir betrachten drei Sektoren einer geschlossenen Volkswirtschaft, die Unternehmen, die Haushalte und den Staat (aus Gründen einer vereinfachten Darstellung vernachlässigen wir das Ausland). Die Haushalte konsumieren nur einen Teil ihrer Einkommen, den Rest bildet ihr Sparen, sie weisen somit permanente und überdies relativ stabile Finanzierungsüberschüsse auf. Diese »übernehmen« zum Teil die Unternehmen in Form von Investitionskrediten und zu einem anderen Teil der Staat in Form von Krediten zur Finanzierung des Budgetdefizits. Unternehmen und Staat weisen also in der Regel Finanzierungsdefizite auf, sie sind Schuldnersektoren.

Die Lage der Gesamtwirtschaft hängt unmittelbar damit zusammen, in welchem Ausmaß einerseits die Unternehmen und andererseits der Staat das Sparen der Haushalte in Form von Krediten »übernehmen« (durch »Vermittlung« der Banken bzw. der Kapitalmärkte). In der Hochkonjunktur ist die Investitions- und Kreditnachfrage der Unternehmen so stark, daß sie den Großteil der Überschüsse der Haushalte »absorbieren«; der Staat weist dann nur ein geringes Defizit auf, im Extremfall erzielt er sogar Überschüsse. Denn bei starkem Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung sind die Steuereinnahmen hoch und die Sozialausgaben niedrig.

Geht die Investitions- und Kreditnachfrage der Unternehmen zurück (etwa infolge eines ausgeprägten Zinsanstiegs oder eines »Ölpreisschocks«), so sinkt die Gesamtproduktion, die Arbeitslosigkeit steigt und damit auch das Budgetdefizit: in der Rezession nimmt somit das Defizit des Unternehmenssektors ab und jenes des Staates zu.

Aufgrund dieser Zusammenhänge kann dem Staat eine Reduktion seines Defizits nur dann gelingen, wenn gleichzeitig der Unternehmenssektor bereit ist, sein Defizit auszuweiten, also seine Investitions- und Kreditnachfrage zu erhöhen. Ist dies nicht der Fall, so senken die Versuche des Staates, zu sparen, weniger sein Defizit als das Wirtschaftswachstum: ein Rückgang öffentlicher Aufträge oder des privaten Konsums als Folge eines Sinkens der Sozialleistungen läßt die Umsätze der Unternehmen zurückgehen und damit ihre Investitionsbereitschaft.

Eine Sparpolitik, welche in erster Linie die Sozialausgaben und damit die Einkommen jener Haushalte kürzt, welche darauf mit Konsumeinschränkungen reagieren (müssen), kann im Endeffekt das Budgetdefizit sogar ausweiten.

Für die längerfristige Entwicklung von Investitions- und Kreditnachfrage des Unternehmenssektors und damit indirekt für die Entwicklung von Budgetdefizit und Staatsverschuldung hat das Verhältnis von Zinssatz zu Wachstumsrate fundamentale Bedeutung.

Liegt der Zinssatz unter der Wachstumsrate, so können die Unternehmen permanent mehr für Investitionen ausgeben, als sie an Gewinnen (vor Abzug der Zinszahlungen) einnehmen, ohne daß ihre Schuld rascher wächst als die Gesamtwirtschaft: sie können somit ein Primärdefizit aufrechterhalten, also mehr Kredite aufnehmen als sie an Zinsen für die schon bestehenden »Altschulden« zu zahlen haben (dies gilt auch für den Schuldnersektor »Staat«).

Liegt der Zinssatz hingegen über der Wachstumsrate, so müssen die Unternehmen und der Staat Primär-überschüsse erzielen, damit ihre Schulden nicht rascher wachsen als das BIP, ihre Nettokreditaufnahme muß also kleiner sein als die Zinszahlungen für ihre »Altschulden«. Dies schränkt wiederum die Investitionsmöglichkeiten der Unternehmen, aber auch des Staates ein und dämpft so das Wirtschaftswachstum.

Investitionsdynamik, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Staatsverschuldung in der Nachkriegszeit

Im »goldenen Zeitalter« der Nachkriegszeit (bis Anfang der siebziger Jahre) lag der von den Notenbanken stabil gehaltene Zinssatz deutlich unter der Wachstumsrate: die Unternehmen »übernahmen« den größten Teil der Finanzierungsüberschüsse der Haushalte, den sie in Form von Investitionskrediten in Maschinen und Bauten und damit indirekt in Arbeitsplätze »transformierten«. Die Investitionsdynamik ermöglichte ein so hohes Wirtschaftswachstum, daß in Westeuropa bereits Anfang der sechziger Jahre Vollbeschäftigung herrschte. Unter diesen Bedingungen war das Budget der öffentlichen Haushalte annähernd ausgeglichen, die Staatsschuldenquote ging zurück.

Die anhaltende Vollbeschäftigung ermöglichte es allerdings den Gewerkschaften in den sechziger Jahren, eine Umverteilung der ökonomischen und politischen Macht zu ihren Gunsten (zunächst) durchzusetzen: Nicht zuletzt durch eine massive Ausweitung von Streiks gelang es ihnen, nicht nur ihren Einkommensanteil, sondern auch ihren Einfluß auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene zu Lasten der Unternehmen zu vergrößern. Die nachfolgende Studenten- und Ökologiebewegung drängte die Unternehmerschaft noch weiter in die gesellschaftspolitische Defensive.

Als Reaktion auf diese Entwicklung nahm die Bereitschaft konservativer Ökonomen und Wirtschaftspolitiker zu, solche Konzepte zu propagieren, welche den Sozialstaat grundsätzlich in Frage stellen: der Neo-Liberalismus im Gewand des Monetarismus wandte sich gegen jede aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik, und daher auch gegen eine Stabilisierung von Zinssätzen und Wechselkursen.

In den siebziger Jahren prägte die monetaristische Doktrin in zunehmendem Maß die wirtschaftspolitische Praxis. Zunächst wurde das System feste Wechselkurse aufgegeben. Ende der siebziger Jahre vollzogen die Notenbanken der wichtigsten Industrieländer, insbesondere die der USA, einen Kurswechsel zu einer monetaristisch motivierten Hochzinspolitik: Das Zinsniveau wurde drastisch erhöht, seither liegt es permanent über der Wachstumsrate, während es davor mittelfristig darunter gelegen war.

Die Unternehmen reagierten auf diesen »Regimewechsel« mit einer Verlagerung ihrer Aktivitäten von Real- zu Finanzinvestitionen: die Reduktion ihrer Nettokreditaufnahme fiel so groß aus, daß sich die Primärbilanz des Unternehmenssektors in einen permanenten Überschuß »drehte«. Dafür dürfte nicht nur das Bestreben der Unternehmungen maßgeblich gewesen sein, ihre Schulden nicht rascher wachsen zu lassen als das BIP, sondern auch die höhere Profitabilität von Finanzanlagen und die steigenden Gewinnchancen kurzfristig-spekulativer Transaktionen auf den Finanzmärkten.

Die privaten Haushalte hielten einen Primärüberschuß aufrecht, sie sparten also weiterhin mehr als sie an Zinserträgen einnahmen, ihre Finanzforderungen wuchsen daher rascher als das BIP.

Bei anhaltenden Primärüberschüssen des Unternehmens- und Haushaltssektors »erlitt« der Staat seit Ende der siebziger Jahre einen Anstieg seines Gesamt- und Primärdefizits: die Investitionsschwäche senkte das Wirtschaftswachstum, der Aufwand für Arbeitslose stieg und die Steuereinnahmen wurden gedämpft.

Bei einem permanent positiven Zins-Wachstums-Differential ist die Staatsschuld in allen Industrieländern seit Ende der siebziger Jahre rascher gestiegen als die Gesamtwirtschaft.

Seit Anfang der neunziger Jahre wird in den USA einerseits und in Europa andererseits eine in zunehmendem Maß unterschiedliche Wirtschaftspolitik verfolgt. Während die USA den »systemischen« Charakter der beiden größten Probleme, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, erkannten und daher eine expansive Gesamtstrategie zu ihrer Bekämpfung entwickelten, kopierten wichtige EU-Länder, insbesondere Deutschland, das in den USA bereits Anfang der achtziger Jahre gescheiterte Modell einer Hochzinspolitik kombiniert mit wachsenden Budgetdefiziten trotz schrittweiser Kürzung von Sozialleistungen:

• Die Notenbank der USA senkte 1990 die Leitzinsen auf das niedrigste Niveau der Nachkriegszeit und behielt dieses mehr als drei Jahre lang bei. Diese Politik stärkte die Investitions- und Kreditbereitschaft der Unternehmen nicht nur direkt, sondern auch indirekt, weil sie eine anhaltende Unterbewertung des Dollarkurses förderte. Im Gegensatz zu den achtziger Jahren lag daher das Zinsniveau nur mehr geringfügig über der Wachstumsrate.

• Die Bundesbank erhöhte zwischen 1989 und 1992 den Diskontsatz auf das höchste Niveau der Nachkriegszeit. Diese Politik war nicht nur der wichtigste Grund für den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse in Europa, sondern auch für die Schwere der Rezession in Deutschland und den übrigen europäischen Hartwährungsländern. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre lag das Zinsniveau in den wichtigsten EU-Ländern daher in noch höherem Maß über der Wachstumsrate als in den achtziger Jahren.

• Der wirtschaftspolitische Kurswechsel in den USA kam besonders in der Budgetpolitik der Clinton-Administration zum Ausdruck. Das Bundesbudget wurde primär einnahmenseitig konsolidiert und zwar in erster Linie durch Beiträge der obersten Einkommensklasse: Ihre marginale Belastung mit Steuern und Sozialabgaben wurde von 31% auf 42% angehoben; da deren (marginale) Konsumneigung relativ niedrig ist, dämpfte diese Strategie die Gesamtnachfrage wenig. Gleichzeitig wurde die negative Einkommensteuer stark ausgeweitet (staatliche Zahlungen an jene Haushalte, deren jährliches Einkommen unter 24.000 Dollar liegt): dadurch wurde die effektive Nachfrage stimuliert, da die sozial Schwächsten nahezu ihr gesamtes Einkommen konsumieren.

Die Budgetkonsolidierung der USA war somit darauf gerichtet, nicht die Konsumnachfrage, sondern das Sparen der Haushalte zu dämpfen und zwar durch eine solche Änderung des Steuertarifs, welche die Einkommen stärker als bisher von oben nach unten umverteilte.

• Im Gegensatz dazu versuchen die meisten Regierungen in Europa, die Budgets ausgabenseitig zu konsolidieren, und zwar in erster Linie durch Senkung der Sozialausgaben. Da diese überwiegend den sozial schwächeren Schichten zufließen, welche auf Einkommenseinbußen mit einem Rückgang ihrer Nachfrage reagieren, hat die Sparpolitik in Europa den privaten Konsum der Haushalte relativ zu ihrem Sparen viel stärker gedämpft als in den USA.

• Die Kohärenz der Geld- und Fiskalpolitik, eingebunden in eine expansive Gesamtstrategie, ermöglichte in den USA ein so hohes Wirtschaftswachstum, daß sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Staatsschuldenquote zurückgingen (das Defizit aller öffentlichen Haushalte sank von fast 5% des BIP im Jahr 1991 auf 1,5% im Jahr 1995).

• In Europa trugen eine die Kreislauf-effekte vernachlässigende Sparpolitik gemeinsam mit einer Hochzinspolitik der Bundesbank und den dadurch mitverursachten Wechselkursverschiebungen wesentlich dazu bei, daß sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Staatsschuldenquote in den meisten Ländern deutlich anstiegen, insbesondere im »Hartwährungsblock«. Erstmals in der Nachkriegszeit fiel das mittelfristige Wirtschaftswachstum merklich niedriger aus als in den USA.

Strategien zur Bekämpfung von Staatsverschuldung und Arbeits-losigkeit

Der »systemische« Charakter des Problems »Staatsverschuldung« sowie die budgetpolitischen Erfahrungen seit Anfang der neunziger Jahre legen nahe, daß dieses Problem am wirkungsvollsten im Rahmen einer expansiven Gesamtstrategie bewältigt werden kann. Die wichtigsten Teilziele einer solchen Gesamtstrategie sind einerseits die Förderung der Realinvestition der Unternehmen relativ zu ihren Finanzinvestitionen (also auch ihrer Verschuldungsbereitsschaft) und andererseits die Stärkung des Konsums der Haushalte relativ zu ihrem Sparen.

Wegen der starken Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften wäre eine von der EU koordinierte, europaweite Neuorientierung der Wirtschaftspolitik wirkungsvoller als »national-ökonomische« Strategien einzelner Länder; dies gilt insbesondere für die geldpolitischen »Komponenten« einer expansiven Gesamtstrategie:

• Orientierung der Zinspolitik der Notenbanken bzw. der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB) an der erwarteten mittelfristigen Wachstumsrate (diesen Kurswechsel hat die Notenbank der USA schon Anfang der neunziger Jahre vollzogen).

• Zur Ausweitung des Finanzierungsspielraums für unternehmerische Investitionen sollte das Niveau der Kreditzinsen jenes der erwarteten Wachstumsrate nicht wesentlich übersteigen und im »Idealfall« sogar leicht unterschreiten.

• Ein deutlich niedrigeres Zinsniveau in Europa würde auch einen Beitrag zur Korrektur der Unterbewertung des Dollar bzw. der Überbewertung der europäischen Hartwährungen leisten.

• Die Überwindung der Wechselkurs-instabilität innerhalb der EU stellt eine weitere »Komponente« eines expansiven Gesamtkonzepts dar; nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Realisierung der Europäischen Währungsunion mittel- und langfristig das Wachstum von Exporten, Investitionen und Gesamtproduktion stimulieren.

• Die Einführung einer einheitlichen europäischen Währung würde auch die Milderung der weltwirtschaftlichen Währungsturbulenzen erleichtern, weil nur mehr zwei bedeutende Wechselkurse stabilisiert werden müßten, jener des EURO gegenüber dem Dollar und gegenüber dem Yen.

Auch wenn das europäischen Zinsniveau zurückginge, läge es weiterhin über der Wachstumsrate. Unter dieser Bedingung wird der Unternehmenssektor weiterhin - möglicherweise niedrigere - Primärüberschüsse erzielen. Damit es dem Staat gelingt, selbst Primärüberschüsse zu erzielen, muß sich gleichzeitig die Primärbilanz des Haushaltssektors von einem Überschuß in ein Defizit »drehen«, also sein Sparen relativ zu den Zinserträgen sinken.

Dies erfordert solche Konsoli- dierungsmaßnahmen, welche spezifisch die Einkommen von Haushalten mit hoher Sparneigung zum Staat umverteilen, also jene der besser Verdienenden.

Eine solche Strategie läßt sich primär nur durch eine einnahmenseitige Budgetkonsolidierung realisieren (wie etwa eine Erhöhung und EU-weite Vereinheitlichung der Besteuerung von Finanzkapitalerträgen, höhere Progression in den oberen Einkommensklassen, insbesondere Erhöhung des Grenzsteuersatzes, Ausweitung von Vermögenssteuern einschließlich Grund- und Erbschaftssteuer). Ausgabenseitig käme eine Staffelung aller Sozialtransfers nach der Einkommenshöhe der Empfänger in Betracht.

Der Wirtschaftswissenschafter Stephan Schulmeister ist wissenschaftlicher Referent am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte der letzten Jahre waren u.a.: Spekulation auf den internationalen Finanzmärkten und ihre weltwirtschaftlichen Konsequenzen, Einfluß des Zinsniveaus auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Staatsverschuldung, Wechselkurssystem und die ökonomische und politische Integration Europas.

Stephan Schulmeister schreibt für mehrere Magazine und Tageszeitungen.