september 1996

Didi Neidhart
gehört

Melvins: Stag

(Atlantic/Warner)

Mit ihrer dritten Major-CD (der insgesamt elften) erledigen die Melvins im Alleingang die Transformation von Post-Grunge/Metal/ Rock/ Punk/Noise in ein hybrides Monsterwesen, das sogar ihre früheren, auch schon gemeingefährlich nach Maden und Metastasen klingenden Werke in einer Radikalität weiterspinnt, die, gelinde gesagt, über 90 Prozent der aktuellen Rockmusik als lauwarmes Babylulu erscheinen läßt. Dabei sind jene Assoziationen, die hier an eine LSD-Alice im Wunderland denken lassen, die auf weiße Hasen, kohlrabenschwarze Ziegenböcke, giftige Kröten und den Zauberer von Oz trifft, mit denen sie die Sumpfblumen des Bösen ißt und süßliche Satans-Balladen trällert, noch das Harmloseste im aktuellen Melvins-Universum. Die Intelligenz und Raffinesse, mit der hier schon vorher zum Einsturz gebrachte Rock-Strukturen noch weiter aufgebrochen, zerrissen, gestreckt und mit Posaunen (!), Sitars, Moog-Synthesizern sowie feisten Griffen in tiefste Klischee-Riffs (die gemeinsten Melvins-Fangeisen überhaupt) kurzgeschlossen werden, produziert weniger abstrakte Diskurse als das klaustrophobische Gefühl, im zynischen Alptraum eines anderen gefangen zu sein, aus dessen labyrinthischem Torture Garden man nicht einmal mit einer schwer ächzenden Delta-Blues-Lokomotive entkommen kann.

Didi Neidhart

DIE GOLDENEN ZITRONEN

Economy Class (Sub Up/Ixthuluh)

»Neue Musik von der Band ohne Privatleben. Alles über Songformen und Freiheit. Wir wissen nicht, was der Diskurs empfiehlt, aber taub stellen kannst Du Dich woanders.« So Blumfelds Jochen Distelmeyer im Info zur radikalsten Zitronen-CD ever. War der Vorgänger »Das bißchen Totschlag« schon eine harte Nuß, bei der sich Anklage, Aufschrei und Aufklärung gegen/über Staatsrassismus, Neoliberalismus, Nationalismus mit Bruchstücken aus Punk, Soul, Funk, HipHop sperrig aneinanderrieben, so gibt es diesmal Free-Style-Explosionen aus »linker« New Wave (Gang Of Four, Pop Group, Rip Rig & Panic), No Wave (James Chance) und Free Jazz (Monk, Coleman), die das textliche und musikalische Material schroff aufbrechen und frei flottieren lassen. Denn auch die selbstgebastelten subkulturellen Resümes sind keine Oasen eines vermeintlichen Guten/Richtigen/Korrekten, wo man die Weisheit mit Löffeln gegessen hat. Mit dem Bewußtsein, daß man sowohl Teil der Lösung wie des Problems sein kann (ist), geht es ans subkulturelle/linke Eingemachte, wobei eigene Widersprüchlichkeiten ebensowenig aufgelöst werden können wie die Tatsache, daß dabei mehr Fragen als Antworten abfallen. Pflichtkauf!

Didi Neidhart

BECK

Odelay (Geffen/Ariola)

Nachdem Beck mit Obskuritäten wie Folk aus der Heimwerkstatt, Lärmspielen und Remix-Künsten im Unterholz von Kleinstlabels herumgeschwirrt war, setzte er mit »Odelay« zum ersten großen Wurf seit 1994 an, als er mit der Platte »Mellow Gold« und speziell mit seinem Hit »Loser« einen Überraschungsangriff aus dem Heimbastler-Studio auf die Charts startete. Und eins vorweg: Beck hat wohl endgültig bewiesen, daß er nicht bloß in geschickter Pose auf jener Schaumkrone des Zeitgeistes surfte, die ihn einen Moment lang als »Stimme einer Generation« durch die Feuilletons getragen hat. Hier präsentiert er sich noch mehr als Folkie-Mutant, der im Mistkübel der Töne und Geräusche wühlt, um klapprige und scheppernde, aber ausgezeichnet funktionierende Tonvehikel zu basteln, die auch am Weg zu Hip Hop oder Hardcore nicht auf der Strecke bleiben. Musikalische Versatzstücke, die beinahe bis zur Unhörbarkeit verbraucht sind, sind als etwas Neues, Ungehörtes zu erleben: als skurrile Ohrwürmer, die sich deutlich von jener Masse an Musik abheben, die sich mit einer dünnen, allzu durchsichtigen Schicht von »Schrägheit« begnügt.

Mario Jandrokovic

WIPEOUT

Saliva (CCP)

Wipeout zeigen bei Live-Gigs das Gesicht einer Band im klassischen Sinne als eine freundliche, unterhaltsame Benutzeroberfläche, obwohl sie in ihrer Grundsubstanz seit jeher schon einige Schritte weiter sind und viel eher wie ein risikofreudiges Klanglabor mit ausgesprochen hoch entwickelter Tanz-Boden-Haftung agieren. Auf ihrer neuen CD »Saliva« (Die mit dem unverwechselbaren Cover) haben sie ihre Zaubergriffe, mit denen sie sowohl ins Herz des Popsongs treffen wie in jenes von gezielten elektronischen Beats & Samples, wirklich an die Spitze getrieben. Sie präsentieren elf Stücke im handlichen Song-Format, die beim ersten Hinhören viel ausgeprägter easy-going sind als bisher, und doch ist Pop bei dem Linzer-Salzburger Trio nur eine gefällige Oberfläche, eine Haut, die sich über zahllose Schichtungen von Geräuschen, Emotionen und Geschichten spannt. Die Beats sind betörend, die Vocals spielen alle Facetten vom Crooner bis zum Psycho durch, und das Kaleidoskop an Klängen, die sich mit der Zeit aus den kompakten Sound-Batzen herauslösen (und sich dabei des öfteren als eine verquer mutierte Gitarre entpuppen), überrumpelt das geneigte Ohr mit einem befremdlichen Lauschangriff in bester Industrial-Tradition.

Mario Jandrokovic