oktober 1996

Didi Neidhart
geschaut

HELL IS AROUND THE CORNER

Anmerkungen zu Martin Scorsese anläßlich einer im Oktober und November stattfindenden Werkschau in Das KINO

Martin Scorsese gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten Regisseuren der Filmgeschichte, einige halten ihn sogar für den wichtigsten amerikanischen Filmemacher der letzten 25 Jahre. Fest steht jedenfalls, daß das Werk des 1942 geborenen Italo-Amerikaners zu einer der größten und vielschichtigsten Inspirationsmaschinerien des Kinos geworden ist. So finden sich zahlreiche Echos, Spuren, Zitate und Radikalisierungen von Scorseses Filmschaffen bei Gus Van Sant, Spike Lee, Kathryn Bigelow, Quentin Tarantino und vorallem im nihilistischen Hardcore-Katholizismus (»Bad Lieutenant«) von Abel Ferrara (vom Einfluß auf die Verwendung von Popmusik als filmischem Hypertext und diverse Mafia-Filme ganz zu schweigen).

Scorsese selber hat aber auch nie ein Geheimnis um seine Einflüsse und Vorlieben gemacht. Seine Filme sind ein Dickicht aus verästelten Querverweisen zwischen privater Biographie (das Aufwachsen in Little Italy, die katholische Erziehung) und Filmgeschichte (Hawks, Ford, Fuller, Powell, Cassavetes, Neo-Realismus, Nouvelle Vague). Nur geht es hier weniger um augenzwinkernde Insider-Jokes, als vielmehr um die Aufarbeitung teilweise traumatischer Kinoerlebnisse eines angehenden Priesterseminaristen, der - zum Glück für die Filmwelt - bei der Aufnahmeprüfung fürs Jesuiten-College durchgefallen ist.

Wenn Scorsese in Interviews erzählt, daß er selbst noch als Filmstudent beichten ging, nachdem er einen dieser in sexuellen Angelegenheiten weder kirchenkonformen noch mit amerikanischen Moralvorstellungen übereinstimmenden europäischen Film gesehen hat, dann ist das weniger kokett oder ein Fall für die Couch, sondern genau jener Knackpunkt, um den auch die Protagonisten seiner Filme elliptisch kreisen.

Scorseses Kino kennt weder Helden noch Anti-Helden, viel eher handelt es sich um widersprüchliche, unbeständige, oszillierende Figuren. Um Männer ohne Eigenschaften, die zwischen zersprengten, zusammenhanglosen, partikularisierten Situationen herumstreifen und nur eines mit Sicherheit wissen: Sie haben sexuelle Ängste, katholische Schuldgefühle und sind unfähig, mit Frauen umzugehen. Stattdessen fliehen sie aus der für sie unübersichtlich und chaotisch erscheinenden Welt und suchen sich romantisch verklärte Abhängigkeiten und Regelsysteme als Ersatzfamilien. Wie etwa Henry Hill die Mafia in »Good Fellas« (»As far back as I can remember I always wanted to be a gangster«) oder Jack La Motta den Boxring in »Raging Bull«. Außerhalb dieser Systeme sind sie zum Scheitern verurteilt.

Es ist das Stigma fast aller Scorsese-Protagonisten, daß sie auf der Suche nach Erlösung von Schuld, moralischen Ambivalenzen, neurotischen Ängsten und Zwangsvorstellungen ihr Schuldenkonto nur noch mehr erhöhen. Auch deshalb, weil sie naiv an den amerikanischen Traum glauben (egal ob als Mafiosi, Taxifahrer, Kellnerin, Boxer), aber an dessen Realisation scheitern. Eben weil es ihn nur im TV und als Wahlversprechen gibt. Was sich bei Scorsese auch in der Zirkulation von freischwebenden Bildern und einer brüchigen Narration niederschlägt. Die Episodenhaftigkeit der Filme ist weniger ein dramaturgischer Trick, als eine (gesellschaftliche/kulturelle) Zustandsbeschreibung. »Die Filme haben den Geruch von Verfall an sich. Sie sind wie Refrains aus einem schlechten Traum vom alten Hollywood, ein endloser, immer wiederkehrender Zug von Gespenstern.« (James Monaco)

Es sind Filme ohne Happy End (»Alice lebt hier nicht mehr«, »Kap der Angst«, »Good Fellas«, »Casino«), »an deren Ende die Bestätigung des alten Lebens oder die Umwandlung in ein neues steht, so traurig und dem Tode ähnlich dieses dann auch sein mag.« (Manfred Hermes)

Oder mit Scorsese gesprochen: »Die Paranoia beginnt wieder von vorn.«

Also nicht vergessen: »You don’t make up for your sins in church, you do it in the streets, or at home; the rest is bullshit.« (Charly/Harvey Keitel in »Mean Streets«)