oktober 1996

Ulrich Müller

»Endlich allein«! »Nur wir allein?«

Der Mythos von Tristan und Isolde im Wandel der Jahrhunderte

Die Geschichte von Tristan und Isolde gehört zu den zentralen »epischen Mythen« Europas, also zu jenem Schatz von Erzählungen und Geschichten, die lange Zeit (und hier: bis heute) in irgend einer Form noch bekannt sind, und sei es nur als bloße Namen. Andere solche »epische Mythen« aus dem Mittelalter sind etwa die Geschichten um König Artus, die Ritter seiner Tafelrunde sowie deren Suche nach dem Gral, um Siegfried und die Nibelungen, um Roland und die Paladine Karls des Großen; aus dem späteren Mittelalter und der frühen Neuzeit wäre etwa zu denken an die beiden Geschichten von den zwei uneinsichtigen Sündern, nämlich Don Juan und Faust.

Woher die Geschichte um Tristan und Isolde eigentlich stammt, ist bis heute umstritten: Von zentraler Wichtigkeit waren mutmaßlich keltische Märchen, aber sicherlich sind Wandermotive aus vielen anderen Literaturen dazugekommen; Parallelen sind ja in vielen Literaturen und Kulturen zu finden.

Die mittelalterliche Geschichte um Tristan, König Marke und die beiden Isolden ist in verschiedenen Versionen überliefert, und sie findet sich im gesamten damaligen Europa. Die Beziehungen der einzelnen Versionen zueinander ist fast eine Spezialform mediävistischer Geheimwissenschaft, und manches daran ist bis heute auch noch nicht eindeutig geklärt.

Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen stammen aus dem 12. Jahrhundert und sind in nordfranzösischer Sprache; wenig später folgen Nacherzählungen und Neudichtungen des Stoffes auf Mittelhochdeutsch und in den meisten anderen Sprachen jener Zeit. Unglückseligerweise sind die frühesten Zeugnisse des Tristan-Mythos nur in fragmentarischer Form erhalten: Von einem Spielmann namens Berol, von Thomas de Bretagne, von Gottfried von Straßburg. Davon gilt Gottfrieds Tristan-Roman, kurz nach 1200 geschrieben, als besonderes Meisterwerk der mittelalterlichen Literatur; bis heute ist umstritten, ob Gottfried seinen Roman absichtlich mit einem ‘offenen Schluß’ hinterließ, oder ob er aus irgendwelchen äußeren Gründen an der Fertigstellung gehindert wurde. Wie unkonventionell und manchmal geradezu ‘aufrührerisch’ sein Roman ist, das zeigt sich an der Tatsache, daß eine Zeit lang allen Ernstes von Germanisten erwogen wurde, der Dichter sei als Ketzer verbrannt worden und deswegen sei sein Werk unvollendet geblieben.

Während die ersten Tristan-Dichtungen in gereimten Versen geschrieben waren, oft mit einer geradezu betörenden Musikalität der Sprache, wurden die Geschichten um Tristan im späten Mittelalter dann in Prosa erzählt und immer mehr ausgeweitet - die riesenhaften Prosa-Tristane (wie sie heute heißen) gehörten zu den beliebtesten Lesestoffen der damaligen Zeit.

Der Kern des Tristan-Mythos sieht etwa so aus: Tristan, enger Verwandter (Neffe, oder gar Sohn?) des Königs Marke von Cornwall, wächst zu einem vorbildlichen Ritter heran. In einem fürchterlichen Zweikampf mit dem riesenhaften Morolt aus Irland besiegt er diesen und bewahrt damit viele junge Landsleute vor Exil oder Tod. Doch wird er dabei durch die mit Gift getränkte Waffe des Gegners schwer verwundet. Schließlich vertraut er sein Schicksal einem kleinen Schiff an und läßt sich aufs Meer treiben. Er kommt unerkannt nach Irland und wird von der heilkundigen Königin Irlands und deren Tochter Isolde gesund gepflegt - beide wissen nicht, daß der Unbekannte ihr Feind ist und am Tod ihres Vasallen Morolt schuld ist. Tristan reist wieder nach Hause und erzählt am Hof Markes von Isoldes Schönheit. Schließlich läßt er sich dazu bewegen, als Brautwerber für den Onkel nach Irland zu reisen - ein zweites Mal. Er besteht das gefährliche Abenteuer und fährt zu Schiff mit der Braut Isolde zurück nach Cornwall. Während einer völligen Windstille und bei großer Hitze trinken beide versehentlich von dem Liebestrank, den Isoldes Mutter eigentlich für die Hochzeitsnacht ihrer Tochter mit König Marke bestimmt hatte. Tristan und Isolde verfallen einander in Liebe. Es beginnt eine nicht endenwollende Kette von Versuchen, hinter Markes Rücken und trotz der scharfen Augen der Hofgesellschaft ihre Liebe zu realisieren. Mehrfach stehen sie kurz vor der Entdeckung, und der Verdacht gegen sie wird immer stärker. Isolde muß sich durch ein Gottesurteil verteidigen (was ihr durch einen ‘frommen Betrug’ auch gelingt), doch schließlich ist das Maß voll: Beide werden in den Wald von Morois verbannt.

In den verschiedenen Versionen wird berichtet, daß sie dort entweder ein entbehrungsreiches Waldleben führen - oder ein Paradieses-Dasein in einer zauberischen Minnegrotte, nur ihrer Liebe hingegeben. Doch sehr lange ertragen sie das Leben im Wald nicht, und es gelingt ihnen, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Aber auf die Dauer geht es ihnen und ihrer Liebe nicht gut: Tristan muß den Königshof verlassen und in die Fremde gehen; mehrfach versucht er aber, wieder zu Isolde zu kommen. In Frankreich lernt er eine andere Frau kennen, die gleichfalls Isolde heißt. Er verfällt dem Zauber des gleichen Namens, heiratet diese zweite Isolde, will oder kann aber die Ehe mit ihr nicht vollziehen. Als er seinem Freund, dem Bruder der zweiten Isolde, in einer Fehde hilft, wird er wieder verwundet: Nur die irische Isolde könne ihn jetzt noch retten. Er läßt nach ihr senden, und tatsächlich bricht die Königin auf, um zu Schiff zur Rettung ihres Geliebten auszufahren. Als sie ankommt, ist Tristan aber tot: Die zweite Isolde hatte aus Eifersucht behauptet, das Schiff sei ohne die irische Königin im Nahen (und habe daher schwarze Segel gesetzt). Königin Isolde stirbt vor Schmerz an Tristans Totenbett. König Marke, der inzwischen über den Liebestrank aufgeklärt worden ist, läßt die beiden unzertrennlich Liebenden zusammen bestatten, sodaß sie wenigstens im Tode vereinigt sind.

Immer wieder ist - wie erwähnt - diese romantische Liebesgeschichte vom Scheitern eines Liebespaares an der Gesellschaft neu erzählt worden, im Mittelalter und auch später. Radikal anders interpretiert hat sie dann Richard Wagner in seinem Musikdrama (Uraufführung 1859): Wagners Liebespaar scheitert nicht nur an der Gesellschaft, sondern vor allem am Wesen der Welt, und es entflieht bewußt ins Nirwana, um dort »unbewußt«, ‘in höchster Lust’ seine Liebe zu verwirklichen.

Alle, die die Geschichte neu erzählt haben, versuchten, ihr neue Aspekte abzugewinnen. Nachdem der französische Literaturwissenschaftler Joseph Bédier im Jahr 1900 es unternommen hatte, die gesamte alte Tristan-Tradition für ein modernes Lesepublikum zusammenhängend und ‘logisch’ darzustellen, wurde sie dann im 20. Jahrhundert auch immer wieder ‘entmythologisiert’.

Einen besonders gelungenen und geistreichen Versuch in dieser Richtung unternahmen Ingomar Kieseritzky und Karin Bellingkrodt: Ihr Text, ursprünglich als Hörspiel gedacht und dann 1987 in Buchform veröffentlicht, greift ein Thema auf, das bereits Gottfried von Straßburg beschäftigt hat - nämlich daß Menschen in reiner Zweisamkeit auf die Dauer nicht existieren können, und zwar weil sie auf Mitmenschen, auf Kommunikation mit anderen, auf die Gesellschaft lebensnotwendig angewiesen sind. Aus diesem Grund läßt Gottfried sein Paar aus dem Waldesparadies, wo sie eigentlich alles wie in einem Märchen zur Verfügung haben, dennoch wieder in die Gesellschaft der anderen Menschen zurückstreben.

Kieseritzky/Bellingkrodt haben mit ihrer ätzenden Lesart des Stoffs dem alten Mythos keineswegs Gewalt angetan, sie haben eine von dessen Wahrheiten eben nur auf moderne Weise neu formuliert: Der Mensch ist, wie schon Aristoteles eindeutig feststellte, ein »Gesellschaftswesen«, ein »zóon politikón«. Das zweisame und so ersehnte »Endlich allein!« erweist sich keineswegs als das erhoffte Paradies, sondern das »Nur wir allein!« entpuppt sich als immer schwerer erträglich, ja als eine subtile Hölle. Das Paar geht sich immer mehr auf die Nerven, wird sich immer unerträglicher, und das Ende ist vorauszusehen: So kann es nicht weitergehen. Was aber genau, nach dem Ende des Stücks, passieren wird, das wird - raffiniert - der Phantasie des Publikums überlassen.

»Irgendwie ist mir unser Liebescode abhanden gekommen« (Isolde).