november-dezember 1996

Gudrun Seidenauer

»Was ist das, was in uns lügt, mordet...?«

Der Dichter, Revolutionär, Menschenverächter, Humanist, Genießer... Georg Büchner

Heute wäre er wohl ein Fall für amnesty international. Und sollte es Salzburg tatsächtlich zur Asylstadt für verfolgte Autoren bringen, würde er vielleigt gar hier durch die in Non-stop-Glanz gebadeten Altstadtgassen streifen, durch die Vorstädte aller sozialen Couleurs von Liefering-Salzachsee bis Anif: Vorsichtig bemüht, keinerlei Aufsehen zu erregen, von überwacher, ja hektischer Gemütsverfassung und einem Blick, dem kaum etwas von den zunächst unscheinbaren Verschiebungen des sozialen und kulturellen Klimas verborgen bleibt. Er wäre einer, der sich von der scheinbaren Nivellierung des Unterschieds zwischen Hütten und Palästen nicht täuschen ließe. Er würde rascher als andere bemerkt haben, daß die Gegensätze wieder schärfer hervorzutreten beginnen. Sein selbstzerstörerischer Lebenswandel würde seine Wahrnehmung keineswegs trüben, im Gegenteil. Damals wie heute wären seine Unruhe, die Schlaflosigkeit, seine zeitweiligen Depressionen als Reaktionen auf Unzumutbares zu sehen, die sich in die Persönlichkeit eingraben, sie erst formen und beschädigen zugleich. Er wäre - und war - keiner, der sich’s zu richten verstünde. Dazu wäre er zu wütend. Und zu sehr Utopist, der auf die Veränderung der Lebensbedingungen für die entrechteten Massen setzt. Doch Büchner ist kein Gutmensch. Dazu macht er sich zu wenige Illusionen. Er weiß, »daß man die Menge nur als Volk anzureden braucht, wenn man sie zum Rückständig-Bösen verleiten will.« (Thomas Mann)

Er würde die Zeichen der Ohnmacht, der Saturiertheit, der wachsenden Ellenbogenmentalität hier und heute lesen und die Sprache der Demagogie an den ersten Tönen erkennen. Da er nicht nur jung und hochgebildet ist, sondern auch voller leidenschaftlicher politischer Ambitionen, die sich nicht auf Schreibtisch und Studierstube beschränken, könnte er heute wie damals in ernstliche Schwierigkeiten geraten. Gewährte man ihm entgegen aller Erwartung dennoch hierzulande Asyl, wäre wohl zumindest mit einer parlamentarischen Anfrage einer stets um die Demokratie hochbekümmerten Fraktion zu rechnen: Hinsichtlich der Verwicklung eines gewissen Gregor oder Georg Büchner in staatsfeindliche Umtriebe, wegen Abfassung und Verbreitung verfassungsfeindlichen Schrifttums. So oder ähnlich. Innenminister Einem könnte allzuleicht das Un-glück getroffen haben, mit dem inkriminierten Georg Büchner auf derselben hochkarätigen Literaturveranstaltung gesehen worden zu sein, einem internationalen Dramatikertreffen etwa. Denkbar.

Hochkarätig ist das in weniger als drei volle Arbeitsjahre zusammengedrängte literarische Schaffen des nur vierundzwanzig Jahre alt gewordenen Büchner zweifellos. Es verschiebt die Grenzen des damals - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - künstlerisch und politisch Denkbaren. Prägend für das Werk des jungen Medizinstudenten aus Hessen, der aus den beengten deutschen Verhältnissen mit achtzehn Jahren nach Straßburg geht, wird die Auseinandersetzung mit der Geschichte der französischen Revolution, ihren Idealen und ihrem Scheitern. Die Erkenntnis der Allmacht geschichtlicher Ereignisse ge-genüber der Ohnmacht des erst gut ein Jahrhundert zuvor ins Bewußtsein gelangten autonomen Individuums findet wohl keinen beredteren Ausdruck als in Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod. Auch in seinen anderen, mehrheitlich in Bruchstücken erhaltenen und posthum veröffentlichten Texten hat sich Büchner als wahrer Erforscher und Kenner der kollektiven menschlichen Psyche und ihrer Fatalitäten in die abendlän-dische Geistesgeschichte eingeschrieben. In der Figur des kraftvollen Intellektuellen Danton verkörpert sich der Geist der Revolution selbst, gebrochen von der Erkenntnis, daß die Idee eines autonomen, willensgesteuerten Handelns nicht aufrechtzuerhalten ist. Büchner legt diesem Danton, der bemüht ist, die Gewaltexzesse des revolutionären Geschehens zu beschränken, sein eigenes, bitteres und hellsichtiges Resümee in den Mund: »Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht (...). Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt, mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; Nichts, nichts wir selbst!«

Diesem einzig zu Lebzeiten Büchners veröffentlichten (und kräftig zensurierten!) Werk liegen eigene, einschlägige Erfahrungen des Risikos radikalsozialen, politischen Engagements zugrunde: Im Juli 1834 kommt Büchners erster gedruckter Text als anonyme Flugschrift in Darmstadt in Umlauf. Sie trägt die berühmt gewordene Überschrift: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Darin legt der zweiundzwanzigjährige Büchner den »kleinen Leuten« mit bezwingender Klarheit und Überzeugungskraft dar, wie sehr - und mit welchen Strategien - sie von der herrschenden Klasse ausgeplündert werden. Bauern tragen die Flugschrift der Regierung zu, die von Büchner mitbegründete »Gesellschaft für Menschenrechte« wird ausgehoben, der Autor muß nach Straßburg fliehen. Ab Juli 1835 wird er steckbrieflich gesucht. Grund: »Indicirte Teilnahme an landesverrätherischen Handlungen.« Dabei hatte Büchner durchaus Grund, die Möglichkeit eines Umsturzes auch für die deutschen Lande in Erwägung zu ziehen: Die verspätet einsetzende Industrialisierung provozierte Verarmung und Massenarbeitslosigkeit ungekannten Ausmaßes. Bei einer Arbeitszeit von sechzehn Stunden täglich reichte im Jahr 1830 der Verdienst eines Arbeiters nicht einmal zur Ernährung aus. Der historische »Woyzeck« hat unter solchen Zuständen gelitten. Besonders den Gebrochenen, Scheiternden, denjenigen, die von einer radikalen Melancholie gekennzeichnet sind, verleiht Büchner differenzierte und kraftvolle Stimmen als literarische Gestalten - wie dem jungen Lenz, gewissermaßen einem Vorgänger Büchners, den dieser in einer mitreißend expressiven Charakternovelle als Verlorenen, hoffnungslos Entfremdeten gestaltet. In einer kunstvollen, zwingende Bilder erzeugenden Sprache gleichermaßen so nah an den Puls des Realen zu gelangen, der äußeren und inneren Verelendung von Menschen erschreckend illusionslos und intelligent Sichtbarkeit zu verschaffen, ist die ganz große Leistung Büchners. Die Fragen, die er dabei zu stellen gewagt hat, sind wohl zum allergrößten Teil noch offen geblieben.