november-dezember 1996

Thomas Rothschild
wenn und aber

Oberkellner-Ordnung

Wenn Friedrich Gulda in seinem Rollkragenpullover, mit Kettchen um den Hals und dem Käppi auf dem ergrauten Haar inmitten jener Oberkellner sitzt, die seine Töchter und Söhne sein könnten, wird es einmal mehr bewußt: Der Kommunismus (oder vielmehr: was sich so nannte) ist zusammengebrochen, die Kleiderordnung im Konzertbetrieb der E-Musik überlebt alle Revolutionen. Ein genialer Außenseiter wie Gulda wird- milde und mit dem Überlegenheitsgefühl derer, die sich korrekt gekleidet wissen- belächelt, eben noch toleriert - und auch das nur mit Abstrichen. Die Kleiderordnung - eine Äußerlichkeit? Nein, ein Symbol. Sonst würde die Bourgeoisie nicht mit solcher Beharrlichkeit an ihr festhalten. Die sogenannte »ernste Musik« ist, allen gesellschaftlichen Veränderungen, allen Demokratisierungsbestrebungen zum Trotz, nach wie vor Klassenkunst. Das Bürgertum feiert sich in Konzerten wie ehedem selbst. Es will sich die Rituale nicht rauben lassen, mit denen es sich seiner ökonomischen Herrschaft auch auf kulturellem Gebiet versichert. Es erkennt die Lächerlichkeiten der Uniformen nicht, die den Spielverderber Gulda flankieren. Im Orchester und im Dirigenten spiegelt es sich wie vor hundert Jahren, und so ist eine Wertung nicht in Frage zu stellen, die Frack und bodenlanges Kleid für objektiv »schöner« hält als Jeans und Pullover. Die angestrebte Feierlichkeit stellt sich nur ein, wo einer funktionslos gewordenen Tradition einer- nämlich der mehr denn je herrschenden- Klasse gehuldigt wird. So gesehen ist die oppositionelle Kleiderordnung bei Rockkonzerten, so hilflos sie sein mag, weil sie ihrerseits uniform auf das Uniforme reagiert, ebenfalls Ausdruck einer Klassenhaltung. Im Gestus ist der Rock nach wie vor plebejisch, auch wenn sein Publikum keineswegs oder nur in erster Linie aus dem Proletariat, sondern eher aus dem Kleinbürgertum stammt.

Daß nirgends so sehr auf »ordentliche« Kleidung geachtet wurde, wie in den sogenannten sozialistischen Ländern, steht nur scheinbar im Widerspruch zu dieser Beobachtung. Bekanntlich gab es kaum peinlichere Spießer als unter den Kulturfunktionären der Sowjetunion und DDR, bekanntlich hatten die Politiker dieser Staaten die Arbeiterbewegung nur feiertags auf den Lippen, war ihnen nichts wichtiger, als die Lebensgewohnheiten der Bourgeiosie zu kopieren, wie es diese einst in bezug auf die Aristokratie tat. Der Jagdfimmel der DDR-Bonzen ist nur die eher komischste als empörendste Ausprägung dieser Manie. Die Kleiderordnung im Konzert war eine marginale Begleiterscheinung. Bei uns aber lebt sie ungebrochen fort.

Ist es verwunderlich, daß mancher junge Mensch, der vielleicht Geschmack finden könnte an »ernster Musik«, sich wenig wohl fühlt im zeremoniellen Milieu bürgerlicher Lackaffen?