Und ewig fliegt der Doppeladler
Tradition als Strategie, sich zeitgenössische Musik vom Leib zu halten
Die Kammerkonzertreihe KONTRAPUNKTE im Rahmen der Osterfestspiele Salzburg ‘97 leistete Bemerkenswertes. Nicht nur war es den Programmgestaltern gelungen, aus Schönbergs und Bergs Oeuvre ausschließlich Stücke auszuwählen, in denen sich Brahms, Mahler und der romantische Rest am hörbarsten offenbarten - es hatten sich auch Interpreten finden lassen, die die Stücke großteils in einer Art und Weise realisierten, als ob sie tatsächlich von Brahms und Mahler stammten.
Das Publikum dankte es ihnen dementsprechend. Eine Brücke in die Vergangenheit war geschlagen worden, sodaß man sich am Dissonanten der Werke nicht unnötig die Füße naß zu machen brauchte. Wen wundert es da, daß Bläserquintette von Ligeti »aus Zeitgründen« zu entfallen hatten, damit nach der Pause u.a. Korngolds Streichsextett (eine Mahler-fixierte, öd-virtuose Fingerübung) frenetisch bejubelt werden konnte?
Apropos Ligeti: Wenn die Demonstration von nationaler kultureller Größe und Tradition neben der vollen Kasse das höchste Gut ist, ist es durchaus nachvollziehbar, daß die KONTRAPUNKTE-Veranstalter die Werke Ligetis und Kurtags unter »Kompositionen österreichischer Komponisten des 20. Jahrhunderts« subsummierten. Sonst nicht. Allein die Tatsache, daß beide auf dem Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie geboren wurden (wenn auch rund zehn Jahre nach deren Auflösung!) und sich intensiv mit Webern auseinandersetzten, scheint Legitimation genug für diese haarsträubende Vereinnahmung. Denn obwohl etwa »in Kurtags Musik geradezu jede Musik Eingang finden zu können scheint, (...) spricht Kurtags Musik stets ungarisch; die ungarische Sprache und Volksmusik des Balkans sind ihr Alphabet«.(Jürg Stenzl)
Das mit den österreichischen Gegenwartskomponisten ist ohnehin eine Sache für sich: So sind etwa 15 der in dem vom 1972 gegründeten »Institut für österreichischeMusikdokumentation« (IÖM) 1992(!) herausgegebenen Buch »Beiträge zur österreichischen Musik der Gegenwart« aufgelisteten 20 Komponisten (selbstredend, daß eine Komponistin nicht vorkommt) vor 1927 geboren, elf vor 1920, einer gar vor 1900, fünf Jahre nach Berg.)
Der (Selbst-)Zwang zum Traditionalismus, der sich an solch unterschiedlichen anthologischen Willkürakten offenbart, ist auch Ausdruck einer allgemeinen »Hinwendung zur historischen Tradition«, die der E-Musik von der Allianz aus Tonträgerindustrie und audivisuellen Medien auferlegt wird. »Die von der reproduktionsfixierten Kulturindustrie forcierte Traditionslastigkeit hat ein Ausmaß erreicht, (...) daß nicht nur zeitgenössische Kompositionen zurückgedrängt werden, sondern Live-Darbietungen überhaupt.« (Reinhard Kager)
Das Publikum dürfte davon ebensowenig schockiert sein wie Politik und Medien. Einer Studie der österreichischen Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AKM) zufolge interessieren sich nur 8% aller Österreicher für die sogenannte E-Musik, für die zeitgenössische Moderne gerade 1%. Beträgt etwa der Anteil an E-Musik-Sendungen in Ö1 immerhin nahezu die Hälfte, relativiert sich dies bei einer durchschnittlichen Tagesreichweite von etwa 5% und einem Anteil an zeitgenössischer Musik von 1,8%. Regelrechte Trostlosigkeit herrscht beim TV: Rund 2% der ORF-Programme waren 1991/92 der E-Musik vorbehalten, der zeitgenössische Anteil tendiert gegen null.
Trotz der inzwischen beachtlichen Anzahl hervorragender Interpreten Neuer Musik wie dem »Ensemble Modern« oder dem »Klangforum Wien« (beide in Veranstaltungen des »Zeitfluß« '97 zu erleben!); trotz dementsprechender Festivals wie dem Straßburger »musica« und der Brüsseler »ars musica«; trotz der aus dem Boden schießenden unabhängigen labels: Darf man es dem Autor dieses Beitrags da verübeln, wenn er (nach dem vorausgegangenen Konsum speziell »hochgeistiger« Genüsse) sich sogar über die zu Mahler und Brahms mutierten Berg und Schönberg freut? Und seinen Neo-Landsleuten Ligeti und Kurtag daraufhin protokollgemäß mit österreichischer (Bier-)Fahne die Reverenz erweist?
Übrigens: Die gelegentlich aufgeworfene Frage, ob sich die KONTRAPUNKTE, was Qualität und Innovationspotential betrifft, einmal zu einem Pendant des »Zeitfluß« im Rahmen der (Sommer-)Festspiele werden entwickeln können, basiert auf einem Irrtum: Sie stellt sich nämlich zu diesem Zeitpunkt erst gar nicht.