mai 1997

Dacia Maraini

Das erotische Wort im Theater

Die italienische Autorin Dacia Maraini über Frauen im Theater

Das Theater ist derjenige Ort, an dem das Begehren mittels des wundersamen Zusammenspiels von Wort, Bewegung, Musik und Licht Gestalt an-nimmt. Allerdings gehört das Be- gehren, das seit je die mehr oder weniger verschleierte Form des weiblichen Körpers annimmt, dem Vater und überliefert sich vom Vater auf den Sohn. Vom Vater kommt die Lust, die sich ver-körpert, nur vom Vater das Wort, welches die religiöse und soziale Wahrheit offenbart.

Der weibliche Körper, der stets präsent ist im Theater, ist in Wirklichkeit jedoch abwesend, insofern er Träger eines Begehrens ist, das nicht das eigene ist, das er zwar enthüllt, aber niemals für sich einlöst. An der Lust, die er verspricht, wird ihm jede bewußte Teilhabe verweigert.

Die erotische Sprache des Theaters ist immer männlich, wenn auch gänzlich durchsetzt von weiblichen Gestalten. Denn, wie die in Italien bekannte Anthropologin Ida Magli feststellt: Die Frauen waren seit jeher die Worte, mit denen die Frauen sich gesprochen haben. Die weiblichen Körper sind die Zeichen eines Diskurses, der sie als denkende Subjekte ausschließt - obwohl sie als Abbilder anwesend sind.

Als erotischster Körper gilt der Körper der Prostituierten. Er ist der am meisten angebotene und daher der männlichen Lust gegenüber der nachgiebigste Körper, er ist der passivste und daher derjenige nach den traditionellen Rollenverteilungen dem Zugriff auf den anderen am stärksten verfügbare Körper.

Allerdings ist der Körper der Prostituierten auch der abwesendste; ein Körper, der von einer bewußten - sogar politischen - Selbstbestimmung sein kann, was die eigene Zeitverfügung und den eigenen Preis anbelangt. Aber er muß mit dem erzwungenen Fehlen seiner Lust rechnen. Tatsächlich ist der Körper der Prostituierten notwendigerweise anästhesiert, entleert von jedem Lustempfinden - gerade im Augenblick seiner scheinbar größten Verlockung und Verfügbarkeit.

Im Theater ist diese Abwesenheit am jahrhundertelangen Verbot weiblicher Anwesenheit am sichtbarsten geworden. Der weibliche Körper ging seiner Substanz verlustig, um sich als Bildnis zu etablieren, seiner Tiefendimension und seiner Subjektivität beraubt.

Im antiken griechischen Theater ist der Schauspieler zu Beginn gleichzeitig Autor: Er kleidet sich in eine lange Tunika, er ragt hoch auf in Kothurnen, speziellen Bühnenschuhen mit Plateausohlen, er polstert sich Schultern und Brust, um riesenhaft zu wirken und übermenschliche Ausmaße zu repräsentieren. Am Kopf trägt er Perücke und Maske - in all dem kann er sich nur mühsam bewegen. Um die Ausstattung zu wechseln, steht ihm nur eine Art Zelt, die Skéne, zur Verfügung. In Sichtweite der Zuschauer verwandelt er sich in Medea, in Klytemnästra, in Phädra, einfach indem er eine andere Maske aufsetzt.

Im römischen Theater, und zwar in der Periode der Dekadenz, als die Atellane, ein bäuerlicher Schwank, modern ist, sind Frauen auf der Bühne zugelassen, werden aber in erster Linie als Imagination von Schönheit und Zartheit benützt und kaum als tatsächliche Darstellerinnen.

Das Theater gilt in der römischen Welt als Ort des Ludus, des öffentlichen Fest- und Schauspiels, das dem Sklaven und Freigelassenen vorenthalten ist. Es hat nichts Heiliges an sich wie etwa im antiken Griechenland. Und in jedem Fall beansprucht der erste Schauspieler alle Königinnen- und Göttinnenrollen für sich, gemäß der vorgesehenen Hierarchie.

Im Theater des Mittelalters, aus dem man Bühne, Vorhang, Schauspieler und alle »teuflischen« Kunstgriffe verbannt hat, ist es wieder ausschließlich Sache der Männer, die weiblichen Parts zu sprechen.

In den berühmten Mysterienspielen z.B. verkleiden sich Priester als Madonna oder als Heilige. Frauen sind dort nicht zugelassen, es sei denn als Zuschauerinnen, also als gläubige und unterwürfige Büßerinnen.

Deshalb scheint es überraschend, daß um das Jahr 1000 eine Frau, die deutsche Nonne Roswitha, geistvolle, kluge und in ihrem gleichsam unbewußt erotischen Gehalt äußerst kühn wirkende Texte verfaßte.

Man denke zum Beispiel an den wundervollen Dialog zwischen der Prostituierten und dem Priester - ganz zum Zwecke geistlicher Erbauung geschrieben - doch mit welch subtiler Sinnlichkeit der Sprache gelingt es der Dichterin, diesen Dialog zu gestalten, ohne in die Fallstricke der kirchlichen Zensur zu geraten.

Einzig in der Renaissance nimmt der weibliche Körper seinen Platz auf der Bühne ein, jedoch begleitet von der Verdammung durch die Kirche, der Verweigerung von Bestattung in geweihter Erde und der Beschuldigung jedes erdenklichen Verbrechens: Promiskuität, Verhältnisse mit dem Teufel, Prostitution, Häresie.

Es ist kein Zufall, daß wir gerade in der Renaissance die ersten großen italienischen Dichterinnen finden: Modesta Pozzo, Veronica Franco.

Viele unter ihnen sind Kurtisanen - die wenigen Frauen, denen vertiefte Bildung zugänglich war, freilich zum Zwecke der anspruchsvolleren Unterhaltung ihrer männlichen Kundschaft.

Dies bedeutet dennoch bereits einen Fortschritt, gemessen an der weiblichen Absenz der Vergangenheit. Die Frauen auf der Bühne sprechen - und sie sprechen von ihren eigenen Interessen. Carlo Goldoni, dessen Werke erhalten sind - während die Improvisationstexte des Theaters dell’Arte nicht mehr existieren - erzählt uns noch im 18. Jahrhundert, wie Frauen um ihre Interessen kämpfen: Ein Ehemann, der nicht vom Vater bestimmt ist, die Möglichkeit zu erben, das eigene Einkommen verwalten, nicht gegen den eigenen Willen ins Kloster geschickt werden, sich von einem gewalttätigen Ehemann scheiden lassen können usw. Goldoni ist einer der ganz wenigen Theaterautoren, die die weiblichen Parts auf einfache, direkte und großzügige Art gestalten. Seine Wahrnehmung der weiblichen Welt ist voller Realitätssinn und Sympathie.

Im modernen Theater, so scheint mir, versucht einzig Henrik Ibsen Vergleichbares. Insgesamt finden wir eine lange Reihe von gehässigen und an Persönlichkeit und Intelligenz ermangelnden weiblichen Gestalten .

Was ist nun Erotik im Theater?

Die Repräsentantin einer Sehnsucht ohne Emotion? Eine Metapher des Koitus? Beschreibung einer Welt der reinen Lust?

An welchem Punkt trennt sich das Verlangen von der Liebe? Welches ist der Moment, in dem sich Lust in Mechanik verwandelt?

Ist Eros das nackte Kind, welches die Blößen der Erwachsenen verspottet, wie es heißt? Oder ist er ein alter Stratege wie Don Giovanni oder Casanova, der mit der Blindheit, Naivität und Unbedarftheit des sehnsuchtsvollen Wesens spielt?

Shakespeare läßt die Erotik aus dem Schlaf fließen: Ein Spritzer einer bestimmten Kräuteressenz auf die geschlossenen Lieder genügt, daß die Feenkönigin Titania sich in den Kopf eines Esels verliebt. Das Erwachen der Sinnlichkeit bringt Zerrüttung und Verderben mit sich. Zustände, aus denen man - in aller Theatralik - nur mittels befreiendem Lachen entkommt.

Also ist wie so oft Sinnlichkeit mit Humor gekoppelt. Dies ist ein Weg der tödlichen Bedrohung zu entkommen, die Lust mit sich bringt. Bei den romantischen Dichtern verwandelt sich dies in eine Vorliebe für unheimliche Orte und für Figuren, die von schmachtendem Verlangen verzehrt werden.

Alles in allem schrieben Frauen wenig über Erotik, weder für das Theater noch in der Prosa. Einenteils deshalb, weil schon allein die Freiheit zu schreiben eine derart kühne Errungenschaft bedeutete, daß man sich keineswegs auch noch mit dem Verdacht der Obszönität beflecken durfte - und auch, weil diejenigen Frauen, die die Feder zur Hand nahmen, so gut wie immer über sich selbst schrieben. Um über den anderen zu sprechen, den Geheimnisvollen, Begehrten, bedarf es einer Freiheit, die Frauen in der Vergangenheit niemals besaßen. Die Liebesklage, die Süße träumerischer Erwartung, die Delirien eines von verinnerlichter Unterdrückung verwirrten Geistes, religiöse Sublimierungen, dies waren ihre schriftstellerischen Arbeitsfelder.

Ausgehend von der Geschichte fortgesetzter Abwesenheiten ist es außerordentlich schwierig, zu einer erkennbaren, spezifisch weiblichen Präsenz von Sinnlichkeit im Theater zu gelangen. Wird es notwendig sein, unsere historische Unfähigkeit, Sex von Emotion zu trennen, geltend zu machen, oder sich vielmehr auf eine neue emanzipatorische Zielrichtung der Lust ohne Liebe zu berufen?

Was mich betrifft, ich bekenne offen, daß ich darauf keine Antwort weiß. Und ich fühle mich weder berufen, Werturteile zu fällen, noch festzulegen, wie Frauen für das Theater schreiben könnten oder gar müßten. Mir genügt es zu wissen, daß sie es tun - mit wachsender Freiheit. Und diese Freiheit schließt sicherlich auch die anstößigen Aspekte der Erotik mit ein, wie bestimmte Formen masochistischer Vergnügen oder sadistischer Aggressivität. Ich denke nicht, daß Frauen besser oder reiner als Männer sind. Sie sind widersprüchlich, kennen das Böse und müssen in jedem Augenblick ihres Lebens in voller Verantwortlichkeit entscheiden, ob sie die Freude oder den Schmerz, Frohsinn oder Trauer, Geben oder Haben wählen.

Dacia Maraini wurde 1936 in Florenz geboren. Ihr Vater war Anthropologe, ihre Mutter Malerin. Während und nach dem 2. Weltkrieg lebte sie acht Jahre in Japan, 1943 bis 1945 war sie mit ihrer Familie in einem japanischen Konzentrationslager interniert. Nach Italien zurückgekehrt, studierte sie in Palermo, Florenz und Rom. Sie begann im Alter von fünfzehn Jahren zu schreiben; seither hat sie sieben Romane, vier Gedichtbände und neun Theaterstücke geschrieben. Dacia Maraini zählt heute zu den bedeutendsten AutorInnen Italiens.