juni 1997

Peter Truschner
gelesen

Die kommende Anarchie

Aus: Lettre International, Nr. 32 und 34, 1996

Globalisierung in Politik, Wirtschaft und Kultur bedeutet allem voran eine »Nomadisierung der Arbeit und des Geldes« (Mangold) und den Export von Lebensgewohnheiten, wie sie McDonalds oder IBM zwecks Umsatzmaximierung intendieren. Die Expansion von fast food untergrabe mediterrane Familienwerte wie ‘Mittagspause’ oder ‘Freizeit’, »indem sie eine Kultur versorgt, in der Arbeit zentral und das Netz sozialer Beziehungen sekundär ist.« (Barber)

Die Internationalisierung der Märkte, von vielen euphorisch beschworen, gilt anderen, etwa angesichts der Währungsunionsdebatte, als Krisenszenario. Die Entwicklung der EU in Geber- und Nehmerstaaten »droht den Kitt einer Union aufzulösen, die ihr Defizit an ideellen Ressourcen in Zeiten der Stagnation kaum mehr verbergen kann.« (Gennet). Das drohende Degenerieren des »Europa-der-Regionen«-Konzepts zu einem Wohlstandssezessionismus ist nach Hobsbawm Ausdruck dafür, »daß Umverteilungskämpfe die Signatur des kommenden Jahrhunderts auch in der EU« sein werden, wobei »sozialpolitische Erosionsprozesse eine (...) friedliche Fragmentierung Europas unmöglich« erscheinen lassen.

Wobei ein Faktor dabei kaum mehr in Betracht gezogen wird: »Es wird Zeit, in der Umwelt das zu sehen, was sie ist: das Thema der öffentlichen Sicherheit im 21. Jahrhundert.« Mangel an Trinkwasser, bebaubarem Boden, Lebensraum und adäquater Gesundheitsversorgung wird nicht nur - wie gegenwärtig in ganz Westafrika - Kriege und Flüchtlingsströme verursachen, sondern die Menschen in Totalitarismus (Irak), faschistisch orientierten Mini-Staaten (das serbisch besetzte Bosnien) oder in Kulturen des Straßenkampfes (Somalia) Zuflucht suchen lassen.

Unter dem Paradigma ‘Umwelt’ bedeutet Chinas Wachstumsrate von 14% dann, daß sich der Küstenraum stärker an den Pazi-fikrand anschließt, während das Inland durch Versteppung, Geburtenexplosion und eine Welle der Gewalt einem westafrikanischen Schicksal entgegensieht. Es bedeutet, daß die Türkei, die reichlich über die Flüssigkeit des 21. Jahrhunderts - Wasser - verfügt, Syrien und den Irak acht Monate lang die Wasserzufuhr abdrehen kann. »Daß sich die US-Außenpolitik unvermindert von der israelisch-palästinensischen Frage fasziniert zeigt und nicht vom türkisch-kurdisch-irakischen Konflikt, ist da auf eine quasi private Obsession zurückzuführen, nicht aber auf die (geo-)politische Realität.«(Kaplan)

Man schätzt, daß der Treibhauseffekt weltweit den Lebensraum von bis zu einer Milliarde Menschen vernichten bis schwer beeinträchtigen wird. Die Folge werden Ressourcenkonflikte sein, die der Hordenkriegsführung des Mittelalters gleichen und in Verbindung mit der zunehmenden Destabilisation von (National-) Staaten schließlich zu dem führen werden, was in Sri Lanka, El Salvador, weiten Teilen Rußlands und Chinas schon der Fall ist: die Anarchie des 21. Jahrhunderts.