jänner-februar 2000

Ulrike Ramsauer
gelesen

Das Kind. Die Frau. Der Soldat. Die Stadt.

Zeitgenössische Erzählungen aus Bosnien-Herzegowina, Drava Verlag.

Jugoslawien in den sechziger Jahren. Das Kind eines ehemaligen Partisanen erlebt, wie der Vater nach steiler Parteikarriere blitzschnell Degradierung erfährt. Zum Stolperstein werden ihm Privilegien, in diesem Fall ein Ferienhaus an der Adria. Der einzelne, so die Wahrnehmung des Protagonisten in Goran Samardzics Erzählung, wird abgelöst durch eine »fröhlich trunkene Mehrzahl, die sich auf den öffentlichen Manifestationen« gegenseitig zuruft. Unzweifelhaft befindet sich eine jüngere Generation von AutorInnen aus Bosnien-Herzegowina in ironischer Distanz zur alten politischen Ordnung. Dabei handelt es sich um Leute, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Kulturszene Sarajevos sozialisiert wurden und die im Vakuum der Vorkriegsjahre, als politische Regeln ungültig geworden waren, in einem Klima der Schwerelosigkeit den Bruch mit vorhandenen literarischen Traditionen ankündigten. Die Rezeption des amerikanischen Independent-Kinos und französischer Philosophie schienen den zwischen 1955 und 1974 Geborenen wesentlicher als die Fragen ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, so der Journalist und Autor Dragoslav Dedovic, der sich selbst dieser Szene zugehörig fühlt.

Die Frau wird beim Überqueren einer Brücke von Heckenschützen getötet. Die Requisiten in diesem Prosatext von Alma Lazarevska - Porzellan der Marke »Alt Wien« , ein »drajfirtl«-Mantel - sind Spuren ihrer Lebensgeschichte im annektierten Territorium des k.u.k. Vielvölkerstaates. Der Soldat und seine Freundin erleben in der Erzählung von Nenad Velickovic, wie der Krieg ihr ganz privates Liebesleben wesentlich verändert. Die Stadt, das urbane Leben, ist Milieu des Alt-Hippies Musa, der in den neunziger Jahren aus seinem selbstgewählten Exil wieder zurückkehrt, um festzustellen, dass man Deutschland von Sarajevo aus klarer sehen könne als von Köln. Die Literaturszene der Nachkriegsjahre in Bosnien-Herzegowina präsentiert sich ausgedünnt: Die während des Krieges erschienenen Bücher wurden von der Literaturkritik kaum wahrgenommen, viele Autorinnen, deren Biografien sich im Sarajevo der achtziger und neunziger Jahre kreuzten, leben mittlerweile in der Emigration in Ländern der EU oder in den USA. Dubravko Brigic, bosnischer Journalist, der nach dem Krieg nach Kanada emigirierte und dort für eine Sarajevoer Zeitung arbeitete, benannte das Dilemma des Exils: »Diejenigen, die die Heimat verlassen haben, sind sich bewusst, dass sie anstelle zweier Heimatländer jetzt zwei fremde Länder haben. Für sie ist das einzige Ruhebett die Sprache.« Die Anthologie von über dreißig, erstmals in deutscher Übersetzung erscheinenden Texten, für den Klagenfurter Drava-Verlag von Dragoslav Dedovic zusammengestellt - er selbst lebt seit 1992 in Deutschland - ist eime äußert lesenswerte Dokumentation dieser AutorInnengeneration!