jänner-februar 2000

Wolfgang Karlhuber
gelesen

VLADIMIR SOROKIN: Norma.

Du Mont, Köln 1999

Was stellen Sie sich unter »Norma« vor? Handelt es sich um einen Frauennamen - die weibliche Endung -a ließe ja, trotz der Strenge des Wortstammes, einen dramatischen Filmstar erwarten, die ihr fins-teres Geheimnis erst gegen Ende des Streifens lüften würde. Hat aber Normas lautliche Gestalt nicht auch etwas beglückend Sättigendes, etwas wie »ehrliches Schwarzbrot«, etwas wie »Normalität«, nach der wir uns bekanntlich ja immerzu verzehren, sowie etwas, was die Magenschleimhäute in Rauschzustände versetzen könnte UND gleichzeitig den Kater regulieren würde? - ein All-Was-Auch-Immer-Mittel! Vladimir Sorokins erster Roman, entstanden zwischen 1979 und 1984, der jetzt endlich (für nicht Russisch Sprechende) in Übersetzung vorliegt, hebelt mittels Parodie die meisten gängigen Vorstellungen über DEN »Roman« (ja, auch ein Sorokin-Titel) aus, wie sich das allerdings für einen Gremialvorsteher der schriftstellerischen Sektion des Moskauer Konzeptualismus auch ziemt. Der vierteilige Roman, der sich innerhalb einer Rahmenerzählung entfalten darf, die von der Verhaftung des Schriftstellers und der Beschlagnahme seines Werkes handelt, hebt mit einem Sammelsurium beglückender Moskauer Alltagsszenen an, deren Personal sich, nebst anderen Betätigungen, vor allem dem individuellen und kollektiven Norma-Verzehr widmet. Ob alt oder jung, Frauen oder Männer, alle sozialen Gruppierungen - die tägliche Norma-Ration macht zwar nicht unbedingt glücklich, leistet aber eine nicht zu unterschätzende Stabilisierung. Bei Norma kann es sich, nachdem sie außen braun und knusprig ist, aber einen weichen Kern besitzt, nur um den berühmten allsowjetischen Schokoriegel handeln! Endlich wurde die Substanz entdeckt, deren Konsum, ähnlich wie in der christlichen Transsubstantiation, den Zusammenhalt des sozialistischen Normkollektives über so lange Zeit garantieren konnte! Kleiner Hinweis zur Auflösung: Die unteren Klassen beziehen den Rohstoff für ihr Norma aus dem Töpfchen des proletarischen Kindergartens, für die oberen werden Produkte aus Elite-Internaten herangezogen.

Die restlichen drei Romanteile entfalten dann, quer durch den russischen Textsortenkatalog von Turgenjew über Bulgakow bis zu den neuen Wilden, die segensreiche Wirkung von Norma, beziehungsweise, je nach Lektüre, die Folgen ihres Fehlens, welche in einen seitenlangen Schrei münden »aaaaaaaaaaaa. aaaaaaaaaa.« oder nach anderer Leseweise: »a.a.« War das dann ein Ausdruck von Überfluss oder einer von Mangel?

Der Schutzumschlag des Buches, den außen eine fingierte KGB-Karteikarte über Sorokins Roman ziert, lässt sich zu A3-Größe entfalten und bildet innen eine Norma-Werbung mit der Aufforderung: »Eßt mehr Norma« ab. Tipp der Redaktion: Affichieren Sie dieses Plakat an der Außenseite Ihrer Wohnungstür, ergänzt durch den Zusatz »Hier erhältlich« und protokollieren Sie die Reaktionen - vor allem, wenn Sie tatsächlich echtes Norma anzubieten im Stande sind! Für die daraufhin verfasste Romanfortsetzung wird der Abdruck einer Rezension garantiert!