jänner-februar 2000

Christoph Lindenbauer

SPIEL - RAUM - MUSIK

Ein ambitioniertes Musikprojekt setzt neue Maßstäbe in der Behindertenbetreuung

Geistig behinderte Menschen treffen einander eine Woche lang zum Musizieren. Sie spielen, meist ohne musikalische Vorbildung, auf teilweise selbstgebastelten Instrumenten wie Teufelsgeige oder auf einem Blasinstrument, das aus einem Gartenschlauch, einer Plastikgießkanne und einem Trompetenmundstück besteht. Sie improvisieren sich förmlich die Seele aus dem Leib bis ihnen die Tränen kommen oder die Luft ausgeht, sie singen mit wackelnden Hüften Seemannslieder, aufgeschnappt aus irgendwelchen Fernsehshows im Wohnzimmer ihrer Eltern oder sie knien sich vors Publikum um brüchigen Stimmen fast religiöse Inbrunst zu verleihen. Manche meditieren sich auch still in ein Volkslied oder spüren einem Flügel-Resonanzklang nach mit einer Konzentration, die Nicht-Autisten bestenfalls ahnen können. Manche sind die Chefs der Band, für andere gibt es diese Kategorien gar nicht mehr.

Auch wenn vor Ihrem geistigen Ohr jetzt nicht mehr erklingen mag, als kakophonische Beschäftigungstherapie für Mongoloide, Autisten oder demente Ex-Alkoholiker, was der Kulturverein Goldegg in diesem Projekt »Spiel Raum Musik« nach einer Woche des Ausprobierens im berstend vollen Kemenatensaal im Schloss Goldegg dem Auditorium präsentiert hat, war mehr als das. Die Behinderten haben teilweise hochmusikalische und berührende Musik zu Stande gebracht. Technische Mängel am Instrument haben selbst jene im Publikum als obsolet zu den Akten gelegt, die normalerweise dem seit Bach in der Musiktheorie unumstrittenen Prinzip der intellektuellen und mathematischen Brillanz als unverzichtbarem Urbestandteil der Musik verfallen sind.

Begleitet wurde das »Spiel Raum Musik« Projekt von professionellen Musikern wie dem Salzburger Saxophonisten und Klarinettisten Fritz Kronthaler oder dem Broadlahnpercussionisten Franz Schmuck. Der Job der Musiker war, so steht es im Konzept des Musiktherapeuten Stefan Heidweiler, sich auf das einfühlsame Unterstützen und Lenken musikalischer Ideen der Behinderten zu beschränken und keinesfalls irgendwelche musikalische Gesetzmäßigkeiten einzutrichtern. Berührend intensiver Beleg für das Funktionieren dieses Prinzips musikalischer Zusammenarbeit ist die CD »Ludo ergo sum« des Trompeters Daniel Erismann, des Bassisten Ewald Oberleitner und des schwer autistischen Klavierspielers und »Klangforschers« Andreas Edelmann.

Ziel des Goldegger Behinderten-Musikprojekts, das heuer im April zum vierten Mal veranstaltet wurde, ist es dennoch nicht, musikalische Besonderheiten durch die Behinderung der Musiker zu Stande zubringen. Das Ziel ist ein Therapeutisches. Die Lebenshilfe-Musik- pädagogin und Projektleiterin Brigitte Flucher zum Beispiel spricht von einer langfristigen Öffnung der Behinderten-Herzen, von einem Lockern vieler eingekrampfter Verhaltensweisen, von monatelanger! Vorfreude auf die kommende Musikwoche. Schwester Richarda, Betreuerin aus dem Behindertenanstalt der Vinzentinerinnen, deren teilweise schwerstbehinderte Patienten heuer erstmals mit von der Partie waren, erzählt von Pfleglingen, die spürbar selbstbewusster werden, aus ihrer teilweise angelernten Behindertenrolle herauskommen und jetzt sogar Verantwortung für Mitpatienten übernehmen. Eine Patientin gibt es, die kaum jemals gesprochen hat und seit dem Musikprojekt Gedichte und Liedertexte schreibt:

»...Wir haben das Korn geschnitten, mit unserem blanken Schnitt

Ich höre den Feind mit Namen, den Alten verleihn!

Ich höre die Fichtel rauschen, rauschen durch das Korn,

mit Namen den Alten verleihn.«

Trotz allem, die Skepsis der offiziellen Behinderteneinrichtungen ist groß. Die Lebenshife beispielsweise, aus deren Einrichtungen seit Beginn von »Spiel Raum Musik« ein Großteil der behinderten Musiker kommen, macht kaum Geld locker. Die Lebenshilfe-Chefs kommen nicht in die Konzerte des Projektes und investieren ihr Geld lieber in Image-Plakate mit Sepp Forcher, die dann an jeder Salzburger Busstation prangen. Auch der Bund bezahlt das Mäntelchen der Behindertenfreundlichkeit lieber mit Riesensummen etwa für das bekannte »No-Problem-Orchester«. Da dürfen die Behinderten zwar auch musizieren, müssen sich aber an ein Arrangement halten. Und wer das nicht tut oder gar »falsch« spielt, der wird vom Orchesterleiter am Mischpult per Reglerzug gnadenlos ausgeblendet. Das Goldegger-Konzept hingegen ist riskant. Nicht selten spielen Autisten kurzentschlossen gar nicht, fast nie ist das Tempo eines Stückes das gleiche wie beim vorigenmal, oft entstehen im Konzert noch nie gespielte Stücke und müssen von den Profimusikern daher spontan in eine Form gebracht werden. Einmal hört ein behinderter Schlagzeuger mit dem gerade entdeckten und sofort ins Herz geschlossenen Rhythmus minutenlang nicht mehr auf und biegt sich vor Lachen über die Fassungslosigkeit seiner Mitmusiker und des Publikums. Was auch passiert, es ist authentisch und für manche wohl auch beunruhigend.

Dennoch, das Projekt Spiel Raum Musik kämpft Jahr für Jahr ums finanzielle Überleben und konnte heuer nur durchgeführt werden, weil die Laube eingestiegen ist, obwohl sie selbst nicht einmal Behinderte betreut. Auch die Vinzentinerinnen in Schernberg überlegen, das Projekt auch finanziell zu unterstützen. Getreu dem Motto von Friedrich Schiller: »Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt.«