september-oktober 1997

gehört

ROLLIN’ AND TUMBLIN’: 50 Jahre Chess Records

Als Muddy Waters 1948 seine frsichgepreßten »I Can’t Be Satisfied«-Singles vom Auto aus in den Straßen von Chicago verkaufte, hatten weder er noch die polnischen Emigrantenbrüder Phil und Leonard Chess die geringste Ahnung davon, daß sie damit gerade an einem der wichtigsten und einflußreichsten Kapitel der Rockgeschichte zu schreiben begannen. Immerhin war Waters gerade ein paar Jahre vorher aus Mississippi gekommen, und die Gebrüder Chess waren erst am Anfang ihrer Labelinhaberkarriere. Da sie als Clubbesitzen an der schwarzen, ehemals von Al Capone beherrschten South Side von Chicago (»Immer, wenn die Bar anfangs nicht genug Whiskey verkaufte, haben sie einfach Marihuana angeboten.«) recht schnell bemerkte, daß Blues und Rhythm & Blues bei Gästen zwar mehr als gut ankam, diese Musik aber so gut wie nirgendwo auf Tonträgern erhältlich war, hatten sie 1947 das »White middle-class pop«-Label Aristocrat übernommen, welches später in Chess umbenannt wurde. In den folgenden Jahren veröffentlichten neben Muddy Waters Kapazunder wie Howlin’ Wolf, Bo Diddley, Little Walter, Etta James, Buddy Guy, Chuck Berry und Willie Dixon regelmäßig ihren elektrifizierten Urban Blues auf Chess. Aber auch Acts wie Little Milton, Aretha Franklin, John Lee Hooker, Memphis Slim und Sonny Boy Williamson finden wir im Labelkatalog. Zum beinah erfürchtig ausgesprochenen Namen wurde Chess aber erst, als in den Sixties britische Bands wie die Rolling Stones, Yardbirds, Animals, Cream oder Led Zeppelin anfingen, Chess-Material zu covern, bzw. schamlos abzukupfern. Das hieß zuerst Bluesrock, später Heavy Metal und führte vorallem zu Erstkontakten mit klassichen Nummern wie »Hoochie Coochie Man«, »Back Door Man«, »Spoonfull«, »Little Red Rooster«, »I Ain’t Superstitious« und »You Shook Me« (alle aus der Feder von Wilie Dixon, Ex-Sparring-Partner von Joe Lewis und Chess-Hauskomponist). Daß sich daraus ein eher strenges 08/15-Formelkorsett entwickelte, dem der afro-amerikanische Umgang mit den Prinzipien von Differenz und Wiederholung nicht nur fremd, sondern auch herzlich egal war, führte schließlich aber auch zu Mißkrediten, denen manchmal sogar das gesamte Genre zum Opfer fiel (bis dann in den 80ern/90ern Acts wie The Gun Club, Nick Cave und vorallem The Jon Spencer Blues Explosion »Blues« als Punk im Shuffle/Buschtrommel-Rhythmus recodierten und somit auch dessen mehr als hybriden Charakter wieder in den Mittelpunkt rückten). Was man jedenfalls bei Chess unter Blues, Rhythm & Blues und Rock’n’Roll verstand, kann man jetzt auf 25, mit exzellenten Liner-Notes versehenen CDs der »Chess Legendary Masters Series« (MCA) nachhören. Wobei es einiges an Hot Shit (wieder) zu entdecken gibt. So z.B. »The Complete Plantation Recordings« von Muddy Waters aus 1941/1942 mit späteren Waters-Hits im embryonalen Delta-Blues-Stadium plus bastardisiertem Country & Western-Fiddel; oder »Electric Mud« (1968), jenes »psychedelisches Album« das mit seinem funky Fuzz/Wah-Space- Blues-Freejazz-Sex locker neben Hendrix besteht und dabei Funkadelic/Parliament vorwegnimmt. Daneben kann man aber auch auf Howlin’ Wolfs »The Genuine Article« Greil Marcus’ »Chaos und Intensität«-Theorie bezüglich der einzigartigen Wildheit von Wolfs manischen Aufnahmen nachprüfen (da werden selbst Danzig und Jon Spencer zu Wiener Sängerknaben), Bo Diddley auf »Rare & Well Done« in bösartigen Voodoo-Beschwörungen (»I spell B-A-D«/I can eat nails, honey/And drink gun powder too«) genießen, sich bei »More Real Folk Blues« über ein bis dato unveröffentlichtes John Lee Hooker-Album freuen oder ganz einfach mit Gänsehaut und schwerem Herzbluten Etta James’ tödlicher Evergreen-Jukebox »These Foolish Things« lauschen. Und wem das Sparpaket von all dem nur träumen läßt, kommt vorerst mit Willie Dixons »The Chess Box« mehr als aus.