märz 1998

Walter Reschreiter
titel

Psychiatrie ohne Menschlichkeit

Psychiater und die »NS-Euthanasie«

Szenen des Grauens

Am Nachmittag des 16. April 1941 fuhren in der Salzburger Landesheilanstalt in Lehen zum ersten Mal die grauen Busse der »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH« vor. 68 Patientinnen der Frauenabteilung waren vom Personal schon auf ihre »kriegsbedingte Verlegung« vorbereitet worden. Ihre Namen standen auf einer Liste, die wenige Tage zuvor aus Berlin übermittelt worden war: Kittl Maria, Prodinger Maria, Sagl Anna ..... Der Transport ging zuerst in die Linzer Anstalt Niedernhart. Von dort wurden die Frauen am folgenden Tag in das zu einer Vernichtungsanstalt umgebaute Schloß Hartheim unweit von Linz gebracht. »Erholungsheim« stand in dem für die Nationalsozialisten bezeichnenden Zynismus über der Eingangstür des Renaissancebaues, der bis 1939 als Pflegeanstalt für Behinderte gedient hatte. Dort angekommen mußten sich alle Frauen entkleiden und wurden der Reihe nach einer abschließenden medizinischen Untersuchung unterzogen. Dabei wurde bereits eine zum Erscheinungsbild »passende« Todesursache im Meldebogen vermerkt. Personen mit Goldzähnen bekamen bei dieser Gelegenheit ein Kreuz an den Leib gemalt. Anschließend trafen die Patientinnen auf den Hartheimer Fotografen: Aufnahme frontal in der Totale, Gesicht von vorn, Gesicht im Profil. »Und nun ins Bad hinein!«, hieß die nächste Aufforderung. Die ganze Gruppe wurde in den sogenannten »Duschraum« gedrängt, die Türe hinter ihnen verschlossen. In einem Nebenzimmer standen Stahlflaschen mit Kohlenmonoxid, das nun vom verantwortlichen Arzt in die Gaskammer eingeleitet wurde. Dann das qualvolle Sterben: »Viele schrien, andere klopften verzweifelt gegen die Türen. Bald rangen die Eingeschlossenen krampfhaft nach Luft. Die ersten sackten zusammen, fielen zu Boden, mit weit aufgerissenen Mündern....« »Gaszufuhr bis keine Bewegung mehr feststellbar ist«, lautete es dazu in den Durchführungsbestimmungen für den beobachtenden Arzt. Danach kam die »schwierige und nervenzermürbende Arbeit« für die Heizer: Zuerst wurde die Gaskammer entlüftet, anschließend mußten die Leichen an den Extremitäten zum Krematorium geschleift werden. Schon Stunden vorher waren die Öfen mit Scheibtruhen voll Koks geheizt worden. Bis zu acht Körper wurden auf einmal verbrannt. Bald stieg aus dem das Schloß überragenden Kamin übel riechender schwarzer Rauch. Die Asche der Toten landete in der Donau oder wurde vergraben. Es vergingen nur wenige Tage bis die Angehörigen der Ermordeten die Todesnachrichten erhielten: »Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, daß ihre Tochter ....., die vor kurzem auf ministerielle Anordnung .... in unsere Anstalt verlegt wurde, am 23. April unerwartet an einer schweren Lungenentzündung verstorben ist«, hieß es dort etwa im Schreiben der eigens Hartheim angegliederten »Trostbriefabteilung«. Die ersten drei Transporte (16., 17., 18. April 1941) aus Salzburg verliefen relativ ruhig. Die bald folgenden Todesmeldungen sprachen sich aber bald bei den Patienten und den Angehörigen herum, so daß es beim vierten Transport zu erschütternden Szenen kam. Anna Maria Wahl, eine Salzburger Schriftstellerin, »die tags vorher in ihre Zelle gesperrt werden mußte, damit sie das Inventarisieren nicht wahrnehme und dadurch in Unruhe gerate, schrie mit gellender Stimme, als sie in den Wagen gezerrt wurde: »Mein, spricht der Herr, ist die Rache!«« Sie wurde ebenso wie 261 weitere Frauen und Männer aus der Salzburger Heilanstalt in Hartheim ermordet.

»Der Krieg gegen die psychisch Kranken«

Insgesamt fielen der »Euthanasie« in Deutschland und Österreich über 70.000 Menschen, psychisch Kranke, Behinderte, chronisch Kranke und »rassisch« Unerwünschte in den sechs verschiedenen Vernichtungsanstalten zum Opfer. Allein in Hartheim, der einzigen auf österreichischem Boden gelegenen Tötungseinrichtung, sollen über 20.000 Personen vergast worden sein. Mit der Durchführung der als Geheimaktion geplanten Massentötungen war ein verschachteltes System von verschiedenen Tarnorganisationen betraut, dessen Fäden in der »Kanzlei des Führers« zusammenliefen. Nach der Adresse der Berliner Zentralstelle in der Tiergartenstraße 4 erhielt die Euthansieaktion ihre Kurzbezeichnung »T4«. Die Verantwortlichen agierten ohne eigentliche Rechtsgrundlage und stützten sich juristisch ausschließlich auf einen Führererlaß, wonach »die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern (sind), daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« Diese Euthanasie-Ermächtigung wurde von Hitler auf den 1. September 1939, den Beginn des 2. Weltkrieges, rückdatiert. Dieses Datum steht damit auch symbolhaft für den Beginn des »Krieges gegen die psychisch Kranken«.

»Moderne« Psychiatrie und Aktion T4

Psychiater, darunter nicht nur karriere-orientierte Jungärzte, sondern auch etablierte Professoren, Anstaltsleiter und sogar engagierte Reformpsychiater der Weimarer Republik, waren auf allen Ebenen der Aktion T4 unmittelbar und freiwillig beteiligt. Eine Verweigerung der Mitarbeit hätte, wie die wenigen Beispiele belegen, keine einschneidenden Konsequenzen nach sich gezogen. So fungierten Mediziner in zentraler Stellung als Organisatoren der Aktion, einige waren zuständig für die Grundlagenerhebung, bzw. entschieden als sogenannte Gutachter mit ihrer Unterschrift, ohne die betroffenen Patienten gesehen zu haben, über Leben und Tod. Andere »forschten« an »lebenden Versuchsobjekten« nach den effizientesten Tötungsmethoden oder waren direkt an den Morden in den Vernichtungsanstalten - bis hin zum Öffnen des Gashahnes - beteiligt. Einige Anstaltsleiter wiederum nahmen die Tötung von Patienten sprichwörtlich in die eigene Hand (»Wilde Euthanasie«). So schwächten Ärzte ihre Patienten mit Absicht durch einseitige Ernährung, daß sie an dieser »Hungerkost« zugrunde gingen. Manche versuchten darüber hinaus mit dem nun reichlich zur Verfügung stehenden »Material« ihre wissenschaftliche Karriere zu fördern. So bestand, wie aus Dokumenten hervorgeht, an den entnommenen Gehirnen reges Forscherinteresse. All diese Psychiater vertraten für sich aber einen streng wissenschaftlichen Anspruch. Ihrem Selbstverständnis nach beteiligten sie sich an einem radikalen Modernisierungsprozeß der Psychiatrie, der eine »aktivere Therapie« gegenüber den Kranken mit der Vernichtung der definitiv Unheilbaren verbinden sollte. Bürokratisierung, Verrechtlichung, Zentralisierung, Kosten-Nutzen-Analysen bzw. Zweckrationalität waren schlagwortartig die herausragenden Attribute dieser »Modernität der NS-Psychiatrie«. In der Identifikation mit der NS-Herrschaft und der damit verbundenen Tendenz zur Grausamkeit diente der wissenschaftliche Diskurs aber nur der Entfesselung und Legitimation der Gewalt. Die Bereitschaft, die eigenen Patienten ihrem Menschsein zu entfremden, so daß sie als »Tiere in Menschengestalt«, »nutzlose Esser« oder »Ballastexistenzen« etc. erscheinen mußten, machte aus der Psychiatrie eine ohne Menschlichkeit.

Landesheilanstalt Lehen

Mitverantwortlich für die Durchführung der Aktion T4 in der Salzburger Landesheilanstalt waren der Direktor Leo Wolfer und sein Sohn Heinrich, der Leiter der Männer- und der erbbiologischen Abteilung. Während dem älteren Wolfer nachgesagt wird, daß er nicht unbedingt ein aktiver Betreiber der Vernichtungsaktion gewesen sei und nur um die Geheimhaltung der Aktion bemüht war - in dem er z. B. seinen Untergebenen im Falle von Indiskretionen mit der Gestapo drohte - , wird sein Sohn in den vorhandenen Dokumenten als fanatischer Befürworter beschrieben. Er soll sich sogar mit Eifer daran gemacht haben, Alten- und Pflegeheime im Land Salzburg nach potentiellen Opfern zu durchsuchen und nach Salzburg-Lehen zu überweisen. Zudem war er als Leiter der erbbiologischen Abteilung an der Vollziehung des »Gesetzes zu Verhütung erbkranken Nachwuchses« (Zwangssterilisierung von Personen, die an »angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressiven) Irresein oder schwerem Alkoholismus« litten) maßgeblich beteiligt. Heinrich Wolfer paßt damit sehr gut in das Bild junger NS-Ärzte, die sich aktiv an der »Euthanasieaktion« beteiligt haben: Mitglied bei der NSDAP und der SA seit 1932, 1940 freiwilliger Eintritt in die SS, Gauhauptstellenleiter im rassenpolitischen Amt für Bevölkerungspolitik. Eine Aktennotiz, daß er auch in der Vernichtungsanstalt Hartheim tätig war, konnte bis jetzt nicht verifiziert werden. Gegen Heinrich Wolfer wurde nach 1945 Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Salzburg erstattet. Da er als Angehöriger der Waffen-SS in Polen als vermißt galt, konnte das Verfahren nie eröffnet werden. Sein Vater, Leo Wolfer, starb schon 1942.

Nach 1945 - von der Heilanstalt zur Landesnervenklinik

Am 13. Mai 1945 fand in der Anstaltskirche ein Gedenkgottesdienst für die »beklagenswerten Opfer der Vertilgungsaktion« statt. Von da an scheint die Ermordung mehr als der Hälfte der seinerzeitigen Patienten mehr oder weniger aus dem Gedächtnis der Psychiater gestrichen worden zu sein. Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, daß nach 1945 eine weitreichende personelle Kontinuität innerhalb der Psychiatrie bestand. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP oder SS war dabei kein Hindernis für eine Karriere. Der ehemalige Direktor der Salzburger Landesnervenklinik, Gerhart Harrer, bietet 1971 folgenden knappen historischen Überblick über die Anstalt in der NS-Zeit: »In den Jahren 1940 bis 1944 wurden durchschnittlich 500 Patienten pro Jahr an dieser Abteilung betreut. Im September 1945 wurde die Abteilung aus äußeren und organisatorischen Gründen aufgelöst.« Es war auch Harrer, der Mitte der Siebziger Jahre »kritische Mediziner«, die anläßlich einer Tagung gegen den Referenten Primar Heinrich Gross (seine Beteiligung an der Ermordung von behinderten Kindern ist zur Zeit wieder Gegenstand von gerichtlichen Vorerhebungen) protestierten, mit der Staatspolizei aus dem Hörsaal entfernen ließ. Harrer verband mit Groß nicht nur die gemeinsame Herausgabe einer Fachzeitschrift, sondern auch diverse Mitgliedschaften, einst zur NSDAP und zur SS, später zur SPÖ. Der Nachfolger von Harrer als Direktor der Landesnervenklinik, Hans-Erich Diemath, verwahrte sich wiederum energisch gegen die Aufstellung eines Mahnmals für die Opfer der Aktion T4 auf dem Klinikgelände, das 1988 vom Arbeitskreis Psychiatrie angeregt wurde. Seine Begründungen dazu sind bemerkenswert und offenbarend zu-gleich: »Der Wunsch des Arbeitskreises ist es offensichtlich, nach dem Motto »Nie vergessen« auf die schrecklichen Ereignisse vor 45 Jahren aufmerksam zu machen, mit dem Ziel, daß sich solche Vorgänge nie mehr wiederholen mögen. Dies impliziert natürlich die Annahme, daß so etwas durchaus wieder denkbar wäre. Daß dieser Gedanke die Betroffenen, d. h. die psychisch Kranken und ihre Angehörigen in Angst und Schrecken versetzen muß, versteht sich von selbst. Die Aufstellung einer solchen Denktafel stellt damit absolut ein therapiefeindliches Element dar, dem ich als Direktor der LNK niemals meine Zustimmung geben werde.« Diemath setzte sich durch und so wurde das Mahnmal in »Erinnerung an die Opfer der NS-Euthanasie« 1991 schließlich im Mirabellgarten aufgestellt. Es spricht für eine neue Generation von Psychiatern, daß der damalige Primar, Rainer Danzinger, in seiner Rede vor der Enthüllung die Führungsrolle von Ärzten an den Ermordungen hervorhob und vor neuen Diskriminierungen von Randgruppen warnte.

Der Autor ist Leiter des Beschäftigungsprojekt

SAMBA

Div. Veröffentlichungen zur NS-Euthanasie