april 1998

Gerald Gröchenig
gelesen

KLEMENS GRUBER:

Die zerstreute Avantgarde. Strategische Kommunikation im Italien der 70er Jahre. Böhlau Verlag 1989.

»Sono seduto a un café e piango - Ich sitze bei einem Café und weine« beginnt Umberto Eco seinen Nachruf auf Radio Alice, jenem freien Radio in Bologna, das, nachdem es nach dem Fall des Radiomonopols in Italien am 9. Februar 1976 zu senden begann, gut ein Jahr später von Sicherheitskräften geschlossen wurde. Die Erstürmung des Studios durch die Polizei wurde bis zum Kappen des Mikrokabels live übertragen. Andere Medien sprachen vom »Radio mit der schmutzigen Sprache«, selbst sah man sich als Informationsguerilla, wollte durch Effekte der Diskreditierung von Sprache und Medium ein kommunikativen Delirium schaffen und die Herrschaftsform der Massenmedien bewußt machen.

Man beruft sich dabei auf den Mao-Dadaismus, den rund um die Oktoberrevolution tätigen russischen Dichter Majkowski sowie Antonin Artaud. Nicht allein die Botschaft steht zur Diskussion, der gesamte Informationszyklus wird vom Radio in Frage gestellt. Zum Losungswort der Informationsguerilla wird die »Inform/Azione«: Aktion, die informiert, kommunikative Praxis, die verändert. Die Position von Sender und Empfänger wird radikal geändert, man versteht sich als Stimme der Ausgeschlossenen, derer, die nie etwas zu sagen hatten. Herkömmliche Hör- und Sendegewohnheiten haben da nichts verloren: man widersetzt sich der Hochsprache und professionellen Sprechern, durchbricht durch den Gebrauch von Flüchen, Blasphemien und Obszönitäten Sprachtabus, die die sprachliche Norm einer Gesellschaft widerspiegeln. Diese Desavouierung anerkannter Codes, die alltägliche Abweichung davon macht Radio Alice unberechenbar und gefährlich und führt schließlich unter einem fadenscheinigen Vorwand zum Schließen. Der vorliegende Band liefert theoretische Hintergründe wie auch ein Bild von der Arbeitsweise des Radios.

Den letzten Teil widmet der Autor dem Kollektiv »Attraverso«, das sich zum Ziel setzte, durch falsche Nachrichten wahre Gegebenheiten zu schaffen. So legte es z. B. in Rom den Verkehr lahm, als es in einem täuschend nachgemachten »Corriere dello sport« die Holländer, die bei der Fußball WM gerade Italien eliminiert hatten, wegen Dopings einfach disqualifizierte. Und obwohl auf der selben Seite darüber berichtet wurde, daß Antognoni vor dem Spiel gegen Brasilien masturbiert hatte, wollte die Fälschung offenbar niemand wahrnehmen.

Eigentlich ein Pflichtbuch für alle, die sich über »Freie Medienarbeit» Gedanken machen und bei »Freien Radios« an mehr als an Programmfenstern, größten Hits oder schnellstem Verkehrsfunk interessiert sind.