april 1998

Doc Holliday
gelesen

VOLKER KÜHN (Hrsg.):

»Der totale Neuss«. Gesammelte Werke. Rogner & Bernhard, bei 2001. In Österreich z. B. über die Buchhandlung »Alex« in Linz erhältlich.

1997 ist das komplette Werk von Wolfgang Neuss, dem größten Nachkriegskabarettisten Deutschlands, in Buchform erschienen. Der 1923 in Breslau geborene Neuss war gelernter Metzger, der als Satiriker und Polemiker mit virtuoser und präziser Sprachbehandlung nicht nur mit dem Hackebeil arbeitete, sondern sehr wohl auch eine feine Klinge zu führen wußte. In Hitlers Krieg schießt er sich den linken Zeigefinger ab und arbeitet dann als Komiker in der Truppenbetreuung. Nach dem Endsieg entwickelt er sich zum Großmeister des Vaterlandsverrats (»Wir können hier richtig deutsch diskutieren, wir haben Verbandszeug im Hause«), dessen Pointenfeuerwerke gegen Adenauer, Militarismus und (Neo)Nazis ihm zahlreiche Auftrittsverbote und der BRD 1955 den ersten Zensurfall im TV bescheren: als er die frischgewählte Bundestagsprominenz live vor der Kamera verärgert, legt der Intendant des SFB den Hebel um und schaltet auf technische Störung. 1962 begeht er Großverrat: 30 Stunden vor Ende der Halstuch-Serie von Durbridge, DEM TV-Straßenfeger schlechthin, verrät er per Zeitungsannonce den Mörder. Die BILD-Zeitung hetzt gegen den Spielverderber, er erhält körbeweise Drohbriefe. Seine Mischung aus Kalauer und Klassenkampf machen Neuss zur Galionsfigur der APO. Mitte der 70er lebt er seinen Protest konsequent und steigt aus: er verschenkt seine Habe, wird vom Jaguarfahrer zum Sozialhilfeempfänger. Auch als Zahnloser bleibt er bissig und seinem Satz treu: »Heute mach ich mir kein Abendbrot, heute mach ich mir Gedanken«. Ein Wunder an Hochkomik, die in diesen Zeiten der trostlosen Comedy-Inflation schmerzlich vermißt wird.