juni 1998

Didi Neidhart
gelesen

Das Elend der Welt

Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft Universitätsverlag Konstanz, 1997

Pierre Bourdieu (Hrsg.):

Nach längerer zeitlicher Verzögerung ist nun auch die deutschsprachige Übersetzung des französischen Originals »La misere du monde« in den heimischen Buchläden erhältlich. Pierre Bourdieu, einer der prominentesten und politisch engagiertesten Intellektuellen Frankreichs und sein Team lassen schon am Titel erahnen, wohin die Reise geht. Die Wanderkarte führt einen schlicht in den gegenwärtigen sozialen Alltag des Neoliberalismus, der gleich einem wuchernden Moloch ständig bestrebt ist, den Rückzug des modernen Staates voranzutreiben. Kein Wunder, daß vor dem Hintergrund dieser Entwicklung die Erklärungsversuche der eigenen Misere nur zu oft in den Grenzen des Mikrokosmos verhaftet bleibt, und somit oft nicht über eine gewisse irrationale Ebene hinauskommen.

Dessen geachtet versuchen die AutorInnen, ohne theoretisches Imponiergehabe anhand unabhängiger und dennoch systematisch verwobener individueller Sozialanalysen konkreter ZeitgenossInnen mehrdimensionale Bilder zu zeichnen.

In Form von Interviews legen die Sprachlosen Zeugnis über ihren Alltag ab, ein Unterfangen, dem es an Tragik nicht mangelt. So exemplarisch Ali, Sohn nordafrikanischer Einwanderer, der von einem Leben abseits seiner tristen Vorstadt träumt, an der Realität jedoch verzweifelt: »Es gibt hier eine Disco, die aufmacht, und da kommen auch mehr Araber rein. Na ja, letztendlich ist es scheiße dort, schließlich kennen wir alle.« Ein alter Gewerkschafter wiederum hadert mit der Auflösung traditioneller Beziehungen: »Ich hab erlebt, daß mich junge Leute beim Flugblätterverteilen gehindert haben, die noch nicht einmal zwei Jahre in der Fabrik sind, ehemalige Leiharbeiter. Sie haben gesagt: Wegen so Leuten wie Ihnen wird man dann arbeitslos.«.

Daß die entstandenen Collagen nicht in einem wertneutralen wissenschaftlichen Korsett oder in den unsäglichen Tiefen der Betroffenheitsliteratur untergehen, dafür sei andächtig gedankt. Daß sich das vorliegende Buch zusätzlich noch betont als Kampfansage an die sogenannte »politische Klasse« versteht, dafür gebührt in Zeiten wie diesen den AutorInnen Achtung!