juni 1998

Bernhard Flieher

The Seed Of Utopia

In 30 Jahren hat die »Szene« sehr viel für diese Stadt getan

Utopie: »als unausführbar geltender Plan« (Duden). Es passiert immer im Kopf. Träume sind schnell gezeugt. Geboren werden sie schwer. Die Geburt der »Szene« geht heuer ins 30. Jahr. Immer wieder muß sie sich selbst erfinden. Immer wieder hat sie sich selbst zu suchen. Das ist kein Selbstzweck. Das Schicksal von Bewegung ist es, nach vorne blicken zu müssen. Rückblicke können nur dienen, die Ideen der Gegenwart zu ordnen. Schwer ist, eine Sprache zu finden, die im Jetzt gültig ist und doch nicht leugnet, daß es sie seit langem gibt und nicht nur eine gemeinsame Basis bildet, sondern auch die Gefahr der Gewöhnung birgt. Noch schwerer ist es, das zu vermitteln.

Das »Unternehmen Szene« bedeutet Sprache. Und die »Szene« wählt die vielleicht schwerste Form der Kommunikation: Die Vermittlung von aktueller Kunst als intensivstes Zeichen des Lebens, als Ideenspender, als Reflektor gesellschaftlicher Strömungen. Wenn damit aber auch noch verbunden sein will, daß man einer ganzen Stadt, einer Region neues Leben einflößt, daß man der barocken Schönheit eine gegenwärtige Alternative gegenüberstellt, daß man der Tradition zumindest Paroli bieten will, ist die Aufgabe schier unlösbar. Manchmal stolperte die »Szene« über ihre Sprache. Im Zwiespalt von gefühlter Aufgabe und erwünschtem Ziel steht man. Hin- und hergerissen zwischen Anspruch und dem Wissen um die schwere Transportierbarkeit desselben. Seit drei Jahrzehnten reißt man aber doch Ziegel für Ziegel ein Loch in die Wand satter Bequemlichkeit.

Die barocke Langeweile bekam durch die Arbeit der »Szene« bunte Flecken, weil man Kunst zwischen die Leute brachte. Auf den Platz vor dem

Stadtkino, auf den Kapuzinerberg, in das Heizkraftwerk Mitte, in einen Gollinger Steinbruch. Nicht in musealen Tempeln strenger Verwalter ewigen Kunsterbes blieb man. Kultur zwischen den Menschen, Kunst unter Menschen. Verblüffen, Erstauen, Überraschen sind ideale Mittel, um Nachdenken beginnen zu lassen, der Bewegung einen fruchtbaren Boden zu geben.

»Don't believe half of what you see, and none of what you hear«, singt Lou Reed und gibt der »Szene« ein Motto. Was nur angestarrt wird, wird verblassen müssen. Was nur angehört wird, muß in den barocken Häuserreihen verhallen. Was nur vernommen wird, gerät zu einem versteinerten Zitat. Die Meisterwerke der Vergangenheit halten diese Stadt (wie soviel andere) noch immer in ihrem Bann. Sie haben versteinert, anstatt zu bewegen.

Ein lebendiges Gegenstück zu den Festspielen, zum Schöne-Welt-Heiligenschein, zur dauersonntäglichen Ruhepause wollte man immer sein.

Nicht jedoch eines, das die Konfrontation zum einzig wahren Mittel erkoren hat, sondern eines, das zeigt, daß Kunst und Kultur Leben bedeuten müssen, Risiko und Mut. Eines, daß Produktivität und die Chance zu gestalten als Antworten auf Starrheit und vermeintliche Sicherheit versteht. Es soll die Auflösung der Bindungen an Routine und das Ende falscher Vorsichten passieren. Es soll das Ende »einer Vernünftigkeit, die sich am schon Gewußten, schon Gekonnten ängstlich orientiert und so zur Unvernunft wird« (Robert Jungk) sein.

Als die Verkrustung der Festspiele zu Beginn der 90er Jahre zu bröckeln begann, schaffte man gar eine Annäherung. Einst saß man bei Pressekonferenzen am gleichen Tisch und zieh gleichermaßen erregt die Stadtpolitik, eine »Eiszeit in der Kultur« heraufbeschworen zu haben.

Die Annäherung dauerte nicht lange. Wer im Bösen zurückblicken will, mag erkennen können, daß es dem großen Traditionsfestival und seinen mächtigen Statthaltern vielmehr um eine Eroberung der »Szene« (und nicht zuletzt ihrer Spielstätten) gegangen sein mag, als um ein produktives Nebeneinander für waches und erwachendes Leben in der Stadt. Oder er mag auch erkennen, daß die Kompromißlosigkeit der »Szene« in künstlerischer Hinsicht manche Hürde aufstellte. Die Zusammenarbeit ist inhaltlich beendet. Man streitet nur mehr um Aufführungsorte. Das Salinengebäude auf der Halleiner Pernerinsel ist bestes Beispiel. Schon im zweiten Jahr in Folge beanspruchen Festspiel-Inszenierungen heuer diese einzigartige Spielstätte während der gesamten Saison - obwohl es ein gemeinsames Nutzungsabkommen gibt.

Die »Szene« kämpft nicht nur gegen starres Kunstempfinden und die Dominanz ewiger Strukturen . Sie muß immer noch (oder mehr denn je?) die Kämpfe in tagespolitischen Abgründen führen. Das Feilschen um die Erhaltung des Stadtkinos als Raum für Ereignisse etwa. Auch wenn aus dem einstigen Gegenstück längst ein weltweit renommierter Kulturmacher und -anbieter geworden ist.

Die Erneuerung einer (wenn auch kleinen städtischen) Welt aus Phantasie und Vision muß schwer sein. Sie entsteht aus Sensibilität und darf

nicht an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten scheitern. Die ständige Suche ermöglicht das öberleben, macht es aufregend. Fündig

wurde man dabei auch in der Wirtschaft. Die Verwirklichung von »Szene Events« mag dem freien Kämpfer gegen aktuelle Macht als Verrat gelten. Notwendige Überlebensstrategie ist sie. Immerhin bedeutet kaufen noch lange nicht sich zu verkaufen. Doch der Grat kann schmal werden. Die Vorsicht muß wachsen. Das ist eine Mühe, die traditionelles Kulturgeschehen vom Rezipienten nur selten verlangt, aber der Anspruch den die »Szene« an ihre Konsumenten stellt. Nicht als Aufnehmer sondern als Wiedergeber sollen sie sich verstehen.

Die »Szene« hat in ihren ersten drei Jahrzehnten dafür gesorgt, daß aus geraden Linien geschwungene, verzweigte wurden. Immer wieder

machte sie ein Spiel aus dem Plan. Und manchmal hat gar der Traum dem Kalkül den Rang abgelaufen. »The Seed Of Utpoia«, heißt das bei »Bad Religion«. Sie ist gelegt auf den ausgetretenen Kopfsteinpflastern. Und einige Samen sind aufgegangen und blühen. Sie müssen gepflegt werden. Die Sehnsucht nach weiteren 30 Jahren wird nur dann gestillt werden können, wenn der Anpassung entgegen gewirkt wird. Wenn weiterhin Kämpfe gefochten werden. Das ist nicht nur Aufgabe der »Szene«-Macher, sondern auch Pflicht ihrer Kunden. Dazu bedarf es nicht nur intellektueller Anstrengung und dem Hörbarmachen vieler leisen Zwischentönen. Es bedarf emotionaler Kraft, die Menschen berührt, die das Lachen und Weinen der Menschen in dieser Stadt nicht nur zuläßt, sondern ihnen auf Bühnen, in alten Industriegebäuden und auf allen möglichen anderen wunderbaren Plätzen Anlaß dafür gibt. Das muß immer im Bauch passieren.

Bernhard Flieher ist Redakteur bei den Salzburger Nachrichten