juni 1998

Wolfgang Drechsler

Out of the light - Into the dark

Der Histotiker Kurt Pätzold im kf-Gespräch über das Schwarzbuch des Kommunismus

Kaum hat die Ausstellung »Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« die öffentliche Tribüne verlassen, kündigt sich schon ein neues Thema an. Der Titel des neuen Stückes: »Schwarzbuch des Kommunismus: Verbrechen, Terror, Repression«.

Der Erscheinungstermin hätte nicht bewußter ausgewählt werden können. Pünktlich zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution wurde in Frankreich das Buch »Livre noir du communisme« präsentiert. Die Arbeit der elf HistorikerInnen, in der Mehrzahl ehemalige rote Gesellen aus der maoistischen und trotzkistischen Abteilung, versteht sich als umfassende Übersicht über die Machtausübung kommunistischer Parteien. Dabei scheint es, als ob kein Thema ausgelassen wurde. Der Bogen reicht von der UdSSR, über die Repressionen der Komintern bis hin zu den mit wenigen Ausnahmen bis vor kurzen real-existierenden sozialistischen Regimen auf diesem Planeten.

Was sich hier auf den ersten Blick eigenartig homogen und einheitlich gibt, kam letztendlich über den Anschein dessen nie hinaus. Bereits vor Erscheinen des Buches entbrannte ein heftiger Streit unter den AutorInnen. Anlaß dafür bot das vom Herausgeber Stephane Courtois verfaßte Vorwort, in dem er die Gesamtbilanz der kommunistischen Verbrechen mit 85 bis 100 Millionen Menschen festlegt, und dabei nicht vor dem indirekten Vorwurf Kommunismus = Nazismus = Holocaust zurückschreckt. Ganz im Geiste des deutschen Historikers Ernst Nolte, dessen revisionistische Behauptungen - der deutsche Faschismus sei lediglich eine natürliche Reaktion auf den ursprünglicheren asiatischen Bolschewismus - Ende der 80er Jahre zu einem weit über den Wissenschaftsbetrieb hinaus beachteten Historikerstreit führte, ist auch Courtois um die Methode der Relativierung gepaart mit simpler mathematischer Addition, bemüht. Vor diesem Hintergrund schreibt er: »Hier kommt der Klassen-Genozid dem Rassen-Genozid gleich. Der Hungertod eines ukrainischen Kulaken-Kindes, das vom stalinistischen Regime dem Hunger überlassen wurde, wiegt genauso viel, wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto«. Folglich haben die »kommunistischen Regimes das Verbrechen zu einem wahrhaftigen Regierungssystem erhoben«, womit getrost jeder/jede rote ParteigängerIn der Komplizenschaft bezichtet werden kann.

Durchaus erstaunt von diesen Aussagen zeigten sich die Mitautoren Jean-Lois Margolin und Nicolas Werth, die immerhin zwei der wichtigsten Kapitel (über die UdSSR und China) beigesteuert haben. In einem ganzseitigen Artikel in Le Monde weisen sie die Betrachtungsweise und Interpretationsver- suche des Herausgebers zurück, und antworten: »Das Massenverbrechen stellt zwar einen Skandal in der Geschichte des Kommunismus dar, es füllt aber nicht seinen ganzen Horizont aus«. Ferner müsse zwischen »bewußter Repressions- und Vernichtungsabsicht« einerseits, die in manchen Zeitabschnitten nicht zu bestreiten sei, und dem »dogmatischen Utopismus, sowie der Realitätsmißachtung der politischen Eliten« andererseits unterschieden werden

Im Hinblick auf das baldige Erscheinen der deutschen Übersetzung des Schwarzbuches führte der »kunstfehler« ein Gespräch mit dem marxistischen Berliner Historiker Univ.-Prof. Dr. Kurt Pätzold:

Trotz des Zusammenbruches der »real sozialistischen« Länder und dem damit verbundenen Postulat des Endes der Geschichte scheinen sich die Protagonisten ihrer Sache nicht allzu sicher zu sein. Läßt sich dieser Umstand anhand der - hierzulande noch ausstehenden - Diskussion um das Schwarzbuch des Kommunismus erkennen?

• Ein Ende der Geschichte der Menschheit ist denkbar durch ihre Selbstvernichtung. Solange Menschen aber existieren, kann das deswegen alleine schon nicht gehen, da die Menschen notwendigerweise arbeiten müssen um sich ernähren, bekleiden, behausen zu können und damit machen sie so oder so, unter welchen Umständen auch immer, ihre Geschichte selber. Geschichte ist an Menschheit gebunden und alle unsere Erfahrungen zeigen, daß es einen Stillstand nicht geben kann. Es handelt sich hier um eine Phrase, bei der sich der Historiker nicht lange aufhalten kann.

Ist das Schwarzbuch ein Versuch von ehemaligen Linken, der Behauptung, daß Kommunismus und Faschismus verschiedene Seiten derselben Medaille sind, zustimmend zu begegnen?

• Ein generelles Urteil dieser Art ist nicht möglich, da die Beiträge der verschiedenen Autoren ein differenziertes Urteil verlangen. Es ist sicher, daß z.B. der Beitrag über die Geschichte der UdSSR, der Tschechoslowakei oder Polens aufgrund einer ungehinderten Aufnahme von Fakten und des Studiums der Quellen von ungleich seriöseren Forschungen getragen ist als z. B. bei der Geschichte Chinas. Insofern sperrt sich das Buch selbst gegen eine Generalisierung der Einschätzung. Zudem hat es unter denen, die am Buch mitgewirkt haben, inzwischen einen Streit gegeben, der sich vor allem an dem vorangestellten Vorwort des Herausgebers entzündet hat. Das Schwarzbuch ist aber unabhängig von der Funktion, die ihm zugedacht wird, ein Produkt von Arbeit, das Teil für Teil analysiert und bewertet werden muß.

Erfüllt das Buch seine selbst auferlegte wissenschaftliche Funktion, oder hat es vor dem Hintergrund des Erscheinungsdatums eine vornehmlich politische Aufgabe?

• Es wurde bereits im Vorwort deutlich ausgedrückt, zumindest von demjenigen, der an der Spitze des Unternehmens stand, daß dieser eine klare politische Vorstellung mit dem Erscheinen dieses Buches verbindet, indem nämlich gesagt wird, daß wenn dieses Buch erschienen ist, wird es keine Kommunistische Partei Frankreichs mehr geben oder zumindest muß diese ihren Namen ändern. Das ist die eine Sache, der Inhalt der einzelnen Artikel ist eine andere. Man kann das vom Herausgeber Geschriebene nicht den Autoren anlasten, zumal einige dagegen schon protestiert haben.

Soll durch die angesprochene Intention des Herausgebers der politische Antifaschismus diskreditiert werden?

• Sicher ist soviel, und dies hat die Aufmachung der französischen Ausgabe des Buches verdeutlicht, daß hier mit der vorgerechneten und angelasteten Zahl von Toten die Feststellung gestützt werden soll, daß der Kommunismus schlimmer, verbrecherischer, menschenmordender als der Faschismus namentlich der deutsche war. Von da gibt es eine Brücke zu dem Versuch zu sagen, wir haben uns über die Jahre hinweg eigentlich mit dem falschen Verbrechertum beschäftigt, und nun sei es an der Zeit, sich mit diesem zu beschäftigen. Jedoch verwehrt sich jede ernsthafte Beschäftigung mit der Geschichte begründet gegen den Versuch, letztlich über der zweifellos grausigen Rechnung mit quantitativen Angaben hinwegzukommen, anstatt über die Notwendigkeit, geschichtliche Prozesse qualitativ zu bewerten und den jeweiligen historischen Platz von Regimen zu bestimmen.

Ihre Kritik zielt darauf, daß man sich lediglich mit der Methodik des Terrors beschäftigt, dabei aber die inhaltliche Zielsetzung einfach ausklammert. Ist diese Differenzierung für die Opfer letztendlich nicht unerheblich?

• Der Unterschied für denjenigen, der das Opfer ist, existiert nicht. Der Mord an Unbeteiligten, der Mord an Personen mit abweichenden Auffassungen ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Dennoch gilt es zu fragen: Von welchen Ideologien wurden Systeme geleitet? Was sind grundsätzliche Erscheinungen, was sind Deformationen? Wird diese Frage ausgeblendet, so kann letztendlich jeder Versuch an Gesellschaftsveränderung mit dem Verweis, daß jeder Versuch über den Kapitalismus hinaus zu kommen, in einem stalinistischen System endet, als verbrecherisch qualifiziert werden.

Danke für das Gespräch!