august 1998

Thomas Neuhold

Die Weltmarktstrukturküche

Die Dialektik von Ökonomie und Eßkultur

Beispiel I: Wer heute im Pinzgau oder anderswo einen »Original Pinzgauer Lammeintopf« speist, tut dies oft im Glauben an die Wiedererstarkung der Regionalküchen. Irrtum! Der im Zuge der Wiederentdeckung des Schaffleisches so beliebt gewordene Lammeintopf wird beinahe ausnahmslos mit Paradeisern verkocht; das ist zwar geschmacklich überaus vorteilhaft, mit »Original Pinzgau« haben die Paradeiser im Lammeintopf aber wenig zu tun, hat doch das Gemüse erst Anfang dieses Jahrhunderts in die Pinzgauer Kochkunst Eingang gefunden.

Beispiel II: In westösterreichischen Wirtshäusern ist es durchaus üblich, zu einem Hauptgericht zwei (Kohlehydrat-) Beilagen (z. B.: Wienerschnitzel mit Reis und Erdäpfel) zu servieren. Über den Geschmack dieser Kombination läßt sich trefflich streiten - meist ist es einfach nur Gewohnheitssache -, sicher ist jedoch, daß diese »Tradition« nur ein Zugeständnis der Österreicher an die Gaumen der deutschen TouristInnen war und ist.

Beispiel III: Daß die allseits beliebten »Spaghetti Carbonara« eine US-amerikanische und keine italienische Erfindung sind, wurde im »kunstfehler« schon einmal besprochen. Und wie schaut’s mit der Pizza aus? Obwohl sie heute bei fast jedem »Italiener« serviert wird und dementsprechend als »typisch« gilt, ist sie dies nur bedingt: Noch 1960 war die neapolitanische Pizza in Venedig genauso fremd wie in Österreich oder Deutschland.

Klassenkampf und Eßkultur

Einer, der sich mit solchen und ähnlichen Beispielen zur Entwicklung der Koch- und Eßkultur beschäftigt, ist der Philosoph, Soziologe und Koch Rolf Schwendter. Der 1939 in Wien geborene Schwendter ist vor allem durch seine 1971 erschienene »Theorie der Subkultur« bekannt geworden. Darüber hinaus hat sich Schwendter aber auch intensiv mit kulinarischen Themen beschäftigt. 1995 publizierte er »Arme Essen - Reiche Speisen«, 1997 erschien die zweite, überarbeitete Auflage von Schwendters Kochbuch »Rezepte für eine andere Küche«. Während Schwendters Rezeptsammlung - allein schon aufgrund fehlender Mengenangaben - wirklich nur erfahrenen KöchInnen empfohlen werden kann, geben seine theoretischen Ausführungen längst überfällige Einblicke in die historische und ökonomische Entwicklung der menschlichen Nahrungszubereitung und -aufnahme, zweifellos eine der wichtigsten Handlungen menschlicher Existenz.

So weist Schwendter etwa nach, daß die Alltagsspeise der jeweils nächst oberen Klasse zur Festtagsspeise der jeweils nächst unteren Klasse wird: »Dies beginnt damit, daß die ‘armen Armen’ an Festtagen überhaupt zu essen haben. Die ‘reichen Armen’ adoptieren an ihrem Festtag die Alltagsspeisen der ‘armen Reichen’, es stehen beispielsweise Fleischspeisen auf ihrem Tisch. Die ‘armen Reichen’ wiederum essen ausschließlich an Festtagen das, was bei den ‘reichen Reichen’ Bestandteil des Alltagslebens zu sein scheint.«

Globale Hegemonie von Burger

und Pizza

Schwendter beleuchtet die Herausentwicklung der »großen« bürgerlichen Küche ebenso wie die der regionalen Arme-Leute-Küchen, die Synthetisierung von Lebensmittel ebenso wie den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem Eintopfsonntag und der verleideten Lust am Eintopf.

Schwendters Grundthese ist, daß der jeweilige Entwicklungsstand der Gastronomie (damit natürlich auch der häuslichen Kochkultur; Anm.) von dem Entwicklungsstand »der Ökonomie nicht abzutrennen ist«. Folgerichtig schlägt sich für ihn auch die Entwicklung des modernen Kapitalismus - Industrialisierung, Internationalisierung, Monopolisierung, schrankenlose Akkumulation, Massenverarmung, Naturzerstörung und Unterwerfung der Nahrungsmittelproduktion unter die Grundsätze des Kosten-Nutzen-Prinzips - auch auf die Mägen. Das Ergebnis sei »die Herausbildung einer durchrationalisiert-vereinheitlichten Weltmarktküche, unter die unterschiedslos aus ihrem regionalen Kontext herausgerissene Nahrungsmittelversatzstücke subsumiert werden: faschierte Laberln und Pommes frites, Backfisch und Frühlingsrolle, Gyros und Mayonnaise, Bratwurst und Curry, Brathendl und Pizza«.

Das Wesen der so skizzierten hegemonialen Weltmarktstrukturküche »besteht, pointiert, darin, industrialisierte Lebensmittel kostengünstig aufzubereiten, standardisiert umzuformen und weltweit zu distribuieren. Es geht ihr dabei ähnlich wie dem sagenhaften König Midas: alles, was sie angreift, verwandelt sich zu Ramsch. Und er ist ja auch für arme Leute gedacht, die ihr unbefriedigtes Speisegefühl im Extremfall durch das Aufsetzen einer Papierkrone kompensieren dürfen«, so Schwendter.

Das trifft aber freilich nicht nur bei Fast-Food-Ketten zu: »Das durchschnittliche deutsche oder österreichische ita-lienische Restaurant führt zwischenzeitlich zu 95 Prozent eine breite strukturalisierte Auswahl von Teigwaren und Saucen (beispielsweise: sechs Teigwaren mal sechs Saucen macht eine imponierend scheinende Vielfalt von 36 Items auf der Speisekarte aus), von Pizzen, von gebratenen Fleischstücken mit oder ohne Saucen, von einigen unkombinierten oder kombinierten Salaten.« Ähnliches gelte auch für »Chinesen«, »Griechen« und andere.

... und irgendwann lassen die Leute dann eine passable Paradeissuppe zurückgehen, weil sie nicht nach Ketchup schmeckt und für Kinder ist ein Fisch ein panierter, rechteckig gepresster Balken ohne Haut und Knochen.

Widerstand im ARGE-Beisl

Sich diesen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung hin zur Weltmarktstrukturküche entziehen zu wollen, hieße gleichzeitig auch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Akkumulation, Internationalisierung und Monopolisierung leugnen zu wollen. Und so macht die Weltmarktstrukturküche auch vor den heimischen Herden und »unseren Wirten« nicht halt. Die allseits geschätzte Frühlingsrolle, das beliebte Gyros auf der Speisekarte des ARGE-Beisl legen beredtes Zeugnis davon ab.

Widerstand zwecklos? Nicht ganz! Wie der Kapitalismus reformoffene Varianten kennt, hat auch die Kochkunst inmitten aller kochtechnischer Nivellierung ihre Nischen. Das ARGE-Beisl ist ein gutes Beispiel: Neben Gyros, Frühlingsrolle und Pizza finden sich auf der von Küchenchef Franz Vierthaler gestalteten Speisekarte auch Gerichte, die andere schon längst aufgegeben haben oder einfach nicht mehr kochen können. Während anderswo Innereien bestenfalls noch als Hundefutter durchgehen, zaubert Vierthaler mit Züngerl, Nieren und Kutteln lukullische Feinheiten auf den Mittagstisch.

Die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die Abtötung der Geschmacksempfindungen und Weltmarktstrukturalisierung der Gaumen sind die Rohstofflieferanten; im Fall »ARGE-Beisl« konkret die kleine Metzgerei Lindlbauer im oberösterreichischen Ostermiething. Die kleine Fleischhauerei, die pro Woche durchschnittlich zwei Stiere, zwei Kälber und etwa 20 Schweine umsetzt, beliefert neben dem ARGE-Beisl noch das Schloß Aigen, die Riedenburg oder den Purzelbaum mit Spezialitäten. Die regionale Metzgerei mit dem einfachen Grundsatz, nur Tiere aus einem Umkreis von nicht mehr als fünf Kilometer, die der Schlachter auch lebend gesehen hat, zu verarbeiten, setzt erfolgreich auf Qualität, an die die Industrieware nie herankommen kann.

Einstweilen scheinen einzelne Köche und Metzger gemeinsam im Schlachten und Kochen gegen die Weltmarktstrukturküche noch bestehen zu können. Aber der Kreis jener, die noch mit Kutteln, Herz oder einem Kalbskopf etwas anzufangen wissen, wird beinahe täglich kleiner...oder wissen Sie geneigte/r LeserIn genau, was ein Hieferscherzel ist und wie man es am besten zubereitet? Eben...

Buchtip: Rolf Schwendter: »Schwendters Kochbuch - Rezepte für eine andere Küche«, veränderte Neuauflage, Verlag Promedia, Wien 1997.