august 1998

Nora Müller

»Eigentlich sollte ein Tenor nichts im Kopf haben«

Jerry Hadley spielt in Brechts Mahagonny den Jimmy Mahoney. Mit dem »kf« sprach er über seinen Beruf, sein Publikum und sein persönliches Mahagonny

»Eigentlich sollte ein Tenor nichts im Kopf haben, aber ich mache mir schon sehr viele Gedanken. Beispielsweise war ich von Anfang an der Ansicht, Musik ist Musik. Der Unterschied liegt nur im Stil. Ich habe mit Bernstein, den ich neben Karajan auch für ein Genie halte, zusammengearbeitet. Folgedessen habe ich auch eine breitere Referenz von Musik, die uns alle irgendwie führt und leitet. Was ich hervorheben möchte ist, daß bei der Musik und ihren Interpreten alles von derselben Stelle kommt: dem Herz, dem Sinn und der Seele - und das ist alles eine Reaktion auf das menschliche Leben«, meint der 46jährige Tenor. Seine Liebe zur Musik führt der in Illinois nahe Chicago geborene Sohn eines Farmers auf seinen italienischen Urgroßvater zurück. »Schon als Fünf-jähriger hörte ich stunden- und

tagelang Songs von Caruso oder Frank Sinatra - die mochte mein Urgr0ßvater besonders.«

»Heute limitieren wir uns oft nur als Darsteller und versuchen, die Musik zu ernst zu interpretieren - besonders in der klassischen Musik. In unserem Beruf ist oft nur der Erfolg ausschlaggebend. Viele Künstler meinen, die Bedeutung liegt darin, nur etwas wiedergeben zu wollen. Ich fühle sehr häufig, daß wir als Darsteller nicht die

echten Schöpfer sind, sondern das sind die Komponisten und Autoren. Wenn man etwas nur präsentieren will, so ist das falsch. Wichtig für den Schauspieler oder Sänger sollte sein, gute Arbeit zu machen. Das heißt: sich klar, wahr, spontan, präzise und einfach darzustellen - und da sind die Möglichkeiten endlos. Das ist aber mit schwerer und ernster Arbeit verbunden. Keineswegs soll man nur versuchen, gute Figur zu machen.«

Ich habe nie ein dummes Publikum gefunden

»Es ist falsch zu glauben, das Publikum besteht aus Idioten. Vielleicht hat es nur nicht die Erfahrung mit dem Stück. Wenn 2.000 Leute in einem Festspielhaus sitzen, dann heißt das 2.000 Vorstellungen und Bedeutungen. Wir denken viel zu oft daran, das Publikum müsse den ganzen Probenprozeß verstehen. Es ist auch falsch, den Zuhörern oder Zuschauern etwas aufzwingen zu wollen. Wichtig ist vor allem, daß es Spaß bereiten und zur Entspannung beitragen soll.«

»Der Mensch ist nicht von Natur aus böse. Anfangs haben wir nur Liebe und ein offenes Herz. Das Böse kommt später, es müßte aber nicht sein. 'Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny' ist ein Beispiel dafür. Jimmy Mahoney ist ein Mann, der die totale Freiheit sucht. In unserer Gesellschaft gibt es die aber nicht. Wir müssen gewisse Grenzen haben. Es ist o.k., daß wir nicht alles machen können, so wie wir es wollen. Wir müssen auch an andere denken und teilen lernen. Die Nachricht besteht darin, daß wir etwas für die Lebenden tun müssen. Jedenfalls ist Mahagonny ein Zeichen der Dekadenz - ob es ein Stück gegen Amerika ist, das weiß ich nicht. Die Gesellschaft in Mahagonny spiegelt jede große Gesellschaft in der Weltgeschichte wider. Der Unterschied zwischen uns heute und dem Römischen Reich ist die Technologie, die es uns ermöglicht, weit mehr zu zerstören. Unmenschlichkeiten haben aber jedoch schon über Jahrhunderte extistiert«, betont der Tenor im kf-Gespräch.

»'Mahagonny' meint vieles. Das Stück muß heute allerdings anders gesehen werden als 1930. Österreich geht es gut. Aber nicht weit weg - in Bosnien und im Kosovo - wird all das Realität, wie es in Mahagonny dargestellt wird.«

Jerry Hadley ist mittlerweile zu einem der größten Interpreten von Lehar-Operetten geworden. Er hat sogar selbst viele Lieder ins Englische übersetzt. Nach seinem Auftritt bei den Salzburger Festspielen gastiert er am 31. Juli in Bad Ischl im Haus von Franz Lehar, wo er einige Arien des Komponisten singen wird. Am 15. August gibt der Tenor in Dresden ein Operettenkonzert. Mit dem Bariton Thomas Hampson geht Hadley Ende des Jahres auf Tournee nach Fernost. Dabei wird eine Mixtur aus Opernarien und Broadway geboten - eine Mischung, die gut zu ihm paßt.

Hadley ist mit der Pianistin Cheryll Drake Hadley verheiratet und Vater zweier Söhne. »Bei meiner Frau kommen die Buben zuerst. Hin und wieder haben wir gemeinsame Liederabende. Die Abende, die wir gemeinsam verbringen, nutze ich vor allem dazu, zu lachen und mich zu entspannen.« Hadley hat neben seiner Sängerausbildung auch eine solche als Dirigent erfahren. »Aber in der Schule und auf der Universität lernt man nicht das, was man im Leben braucht.«