august 1998

Thomas Neuhold
leitartikel

Die 68er - Zwischen Anpassung und Traditionspflege

Das Zentralorgan des deutschen Bürgertums, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, formulierte in einem Beitrag zum 30. Jubiläum der Protestbewegung folgende Einschätzung: Die RebellInnen von damals hätten an ihre Elterngeneration Fragen gestellt, auf die diese keine Antwort geben konnten und wollten; heute geben uns die Alt-68erInnen Antworten auf Fragen, die ihnen niemand gestellt hat, so der FAZ-Autor sinngemäß über die europäische 68er Bewegung und deren RepräsentantInnen damals und heute.

Vor allem der giftige zweite Teil der FAZ-Ansage ist es wert weitergedacht zu werden. Was bedeuten eigentlich die 68er heute? Man/frau möge - ob der gebotenen Kürze - die mangelnde Differenziertheit nachsehen: Im Kern war die europäische Revolte von 1968 und das Drumherum in kulturellen, wissenschaftlichen oder beispielsweise sexuellen Dingen eine Durchlüftung, eine Anpassung des Gesellschaftssystems an radikal veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten. 1968 war aber auch der schlagende Beweis dafür, daß der Kapitalismus wesentlich anpassungsfähiger und stabiler ist, als viele seiner KritikerInnen uns weismachen wollen.

Die Utopien, Träume und Hoffnungen mußten dabei logischerweise auf der Strecke bleiben. Die Studiosi, die Progressiven von damals wurden entweder zu Stützen des Systems, das sie selbst - subjektiv ungewollt - (mit)reformiert hatten. Oder sie sind einfach tragische Überbleibsel, an deren hehren Zielen die Entwicklung des modernen Kapitalismus im Eiltempo vorbeizieht und die gelähmt auf die ökonomischen Verramschung ihrer Symbole, ihrer Kultur, ihres Denkens oder ihrer sexuellen Freiheit starren.

Die FAZ hat recht. Die 68er beider Ausprägungen geben Antworten, um die wir sie nicht gebeten haben. Die einen sind von ihren einstigen GegnerInnen kaum mehr zu unterscheiden. Die anderen betreiben liebenswerte Traditionspflege, deren Inhalt für heutige Widerstandsprojekte weitgehend bedeutungslos geworden ist.