august 1998

Doc Holliday
titel

1968: Endlich die Sau rauslassen!

Anmerkungen zum 30. Dienstjubiläum der (studentischen) Protestbewegung

Die unvermeidlichen Grabreden zum Jahr 1968 und den damaligen Ereignissen kleistern ohnedies bereits alle möglichen und unmöglichen Medien zu, mögen Sie, liebe Leser, einwenden. Das stimmt schon. Dennoch gilt es einiges neu zu gewichten, bzw. überhaupt erst einmal zu thematisieren. Was geschah wirklich in Österreich, im speziellen in Salzburg (oder besser: wann, falls überhaupt, passierte hier etwas 68er-Ähnliches)? Und von unserer Alpenrepublik schweift der Blick in die weite Ferne. Nicht, wie bei den Gedenkfeiern üblich, in die BRD oder die CSSR, auch nur kurz nach Frankreich. Sondern, als Kritik am herrschenden Eurozentrismus, in die 3. Welt, im speziellen nach Mexiko. Einerseits, um zu zeigen, daß die weitaus härteren und gefährlicheren Kämpfe an der Peripherie ausgefochten wurden und um andererseits den weltumspannenden Charakter der 68er- Rebellion nochmals nachhaltig zu betonen.

»1968« wird heute in der öffentlichen Diskussion als eine Metapher gebraucht. Das rührt natürlich daher, daß nur einige zentrale Ereignisse sich tatsächlich in diesem Jahr zutrugen, z. B. der »Pariser Mai«: die Erhebung an den Universitäten, aber auch, und das wird bei den Jubelfeiern 98 geflissentlich verschwiegen, der dreiwöchige Generalstreik von 10 Millionen Arbeitern im ganzen Land. Immerhin titelte »Der Spiegel« damals unter einem Foto von umgekippten und abgefackelten Autos: »Französische Revolution«. Die Mehrheit der heutigen Kommentatoren, die großteils 1968 Angehörige der Uni-Bewegung waren, reduziert diese inzwischen auf die Etablierung kultureller Werte, auf das Auslösen eines kulturellen Liberalismus und damit letzten Endes auf eine Modernisierungsrevolte im Rahmen des Kapitalismus. Auch in Frankreich, wo die Auseinandersetzungen mit höchster Intensität stattfanden, schweigen die politischen Formationen über den Mai 68. Daß damit nicht alle restlos zufrieden sind, zeigten junge Aktivisten der anarcho-syndikalistischen CNT, die zum Jubiläum in Nanterre - wo es schon sehr früh zu einer »Verbrüderung« mit dem Subproletariat und Arbeitern gekommen war - auf den Ex-»Führer« Daniel Cohn-Bendit ein Torten-Attentat verübten. Jener, neben Rudi Dutschke, bekanntester Studenten-»Revoluzzer« Europas, ist wie kein Zweiter der lebende Beweis für die These von der Installierung neuer kultureller Werte in unserer Gesellschaft. Haben wir Dany, diesmal ganz ohne Sahnebatz im Gesicht, aber mit reichlich Honig rund ums Maul, deshalb etwa auch bei der heurigen Eröffnung der SommerSZENE erblicken dürfen?! Oder fällt dieser Auftritt des jetzigen Europa-Abgeordneten der deutschen Grünen unter sein früheres Multikulti-Ressort? Apropos »Szene der Jugend«: 1971 etabliert, entstammt sie ja wohl auch aus dem 68er Geist. Davon merkt man heute nicht mehr viel. Ein Provokateur wie Schlingensief zeigt die Grenzen des Kulturliberalismus auf und läßt die Berufsjugend mit vollen Hosen zurück.

»1968« begann viel früher. In den USA gab es seit Anfang der 60er Jahre eine breite Bürgerrechtsbewegung und eine Opposition gegen den Vietnamkrieg. Dazu kamen die Einflüsse von dissidenten Jugendkulturen und künstlerischen Protestströmungen (Beatniks, Situationisten, Provos, Gammler, Halbstarke,...). 1965 brannte Watts, der »schwarze« Stadtteil von L.A., 1966 kam es in Oakland zur Gründung der Black Panther Party und zu blutigen Straßenkämpfen bei Antikriegskundgebungen. Der bewaffnete Konflikt in Indochina, der ab 1964 unter dem »demokratischen« Präsidenten Lyndon B. Johnson (»Bombt sie in die Steinzeit zurück«) endgültig eskalierte, stellte das ausschlaggebende Ereignis für die Protestbewegungen dar. Weltweit solidarisierten sich Menschen mit den asiatischen Underdogs und forderten das Sebstbestimmungsrecht des vietnamesischen Volkes ein. Davon blieb auch Österreich, zumindest Wien, nicht verschont. Bereits im August 1964 kam es vor der US-Botschaft zu einer Kundgebung der (kommunistischen) Freien Österreichischen Jugend. Im Dezember 1965 hielt dann auch der sozialdemokratische, aber weit links stehende Verband Sozialistischer Mittelschüler (VSM) eine erste Veranstaltung zur US-Aggression ab. Zahlreiche Demos und Aktionen folgten, am 13. 2. 1968 kamen 1200 Personen vor das Amerika-Haus, um die internationale Solidarität hochleben zu lassen. Den harten Kern der Wiener 68er-Bewegung schätzt der damalige Aktivist Gerhard Oberschlick, später Herausgeber des »Neuen Forum«, dem Zentralorgan der Neuen Linken, auf »ca. 200 Hanseln und Hanselinen«.

Um zu kapieren, was diese Protestierer wirklich motivierte, muß man sich die österreichische Nachkriegsgesellschaft vor Augen halten. Nach der Niederlage von Nazi-Deutschland ging es vor allem einmal um die Sicherung des eigenen Überlebens. Dazu mußte man sich - die ganze Nation - kollektiv als erstes Opfer der Hitler-Aggression hinstellen. Eine fürwahr abenteuerliche Geschichtsverdrehung, die nach kurzer Zeit der »Entnazifizierung« sehr hilfreich bei der Vergangenheitsverdrängung war. Die Wiederaufbau-Generation konzentrierte sich voll auf Wiener Schnitzel und Volkswagen. Um für den nötigen wirtschaftlichen Aufstieg und innenpolitische Stabilität zu sorgen, wurde bereits 1951 die Sozialpartnerschaft, also die Zusammenarbeit von Regierung und den Interessenvertretungen, institutionalisiert. Allenorten herrschte der Proporz zwischen ÖVP und SPÖ, Anfang der 60er Jahre mit der Großen Koalition auch auf Regierungs-ebene. Nach den Nationalratswahlen 1966 bildete die ÖVP eine Alleinregierung unter Bundeskanzler Josef Klaus, mit dem parteilosen Kurt Waldheim als Außenminister und dem alten Austrofaschisten Piffl-Percevic als Unterrichtsminister. In den wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Fragen änderte sich nichts unter der konservativen Alleinherrschaft. Sehr wohl ist aber etwa dem damals jungen Maler Christian Ludwig Attersee die Kunstfeindlichkeit und generelle Intoleranz in Erinnerung geblieben. Eine bleierne Zeit, in der auf die alten Ideale Sauberkeit und Ordnung gepocht wurde. Es herrschte eine extreme Lustfeindlichkeit. Trachtenumzüge und Blasmusikkapellen stellten die Spitze der Volkskultur dar. Trifft diese Einschätzung auf ganz Österreich zu, so herrschte schon damals in Salzburg eine noch viel tristere Situation. Zu der hierorts typischen Krämermentalität gesellte sich noch strafverschärfend die klerikalfaschistische Tradition und die Absolutierung der Hochkultur, mit der Tourismusmaschine »Festspiele« und deren Staberlwart Herbert von Karajan. Kein Wunder, daß die in Metropolen herrschende Aufbruchsstimmung in der biederen Mozartstadt nur sehr mühsam in Gang kam. Im Mai 68 war Obertrum Schauplatz eines Studentenkongresses, der entscheidende Konzepte für eine Demokratisierung der Hochschulen liefern sollte. Der damalige VSSTÖ-Chef Erich Fröschl, heute Leiter des sozialdemokratischen Renner-Instituts in Wien, erinnert sich: »Die Initialzündung im katholischen Salzburg war die Ermordung Martin Luther Kings. Da stellten sich die Professoren hinter uns: Fritz Fellner, Erika Weinzierl und andere.« Fröschl war nicht nur Chef der roten Studiosi, sondern auch Salzburgs Gesandter in der 68 gegründeten überregionalen Institutsvertreterkonferenz und Leiter des Paracelsus-Heimes, wo es erstmals gelang, die damals übliche Geschlechtertrennung aufzuheben. Das markierte überraschenderweise aber noch nicht den Höhepunkt der 68er-Bewegung in Salzburg. Der sollte noch zwei Jahre auf sich warten lassen. Die Vorgeschichte: der Antimilitarismus im allgemeinen und die Anti-Bundesheer-Bewegung im besonderen war bereits seit dem Nationalfeiertag 1968 ein Thema der Wiener Protestbewegung. Ende 1969 formierte sich dann eine breite Front für die Abschaffung des Bundesheeres. Günther Nenning und der VSM sammelten eifrig Unterschriften für die Einleitung eines entsprechenden Volksbegehrens. Alle vom VSM beeinflußten Schülerzeitungen, auch die Salzburger »spindzeitung«, unterstützten die Kampagne. Die SPÖ reagierte übrigens auf ihre Weise, indem sie im Wahlkampf die Forderung »Sechs Monate sind genug!« aufstellte und so die Wahl 1970 bzw. 1971 gewinnen konnte. 1969 paradierte das Bundesheer wieder einmal auf dem Residenzplatz. Man höre und staune: EIN Umstürzler war zugegen, der mit einem gellenden Pfiff seinen Unmut kundtat. Prompt folgte die Disziplinierung durch einen in der Nähe postierten »alten Kameraden«, der dem Frechdachs eine gesunde Maulschelle verabreichte. 1970, zum 15jährigen Jubiläum der Staatsvertragsunterzeichnung, fand natürlich wieder eine Heeresparade statt. Diesmal ließen die VSSTÖ-Aktivisten ihrer Kreativität freien Lauf. Angeregt durch eine Aktion in Belgien, wo eine Angelobung durch das Freilassen von 1oo Hühnern nachhaltig gestört werden konnte, ging man rechtzeitig auf Einkaufstour. Von einem Innviertler Bauern erstand man - getarnt als freiheitliche Studenten - ein nettes Ferkel, das noch in Riedenburg bei einem alten Widerstandskämpfer eine Woche lang gemästet wurde. Am 15. Mai war es dann soweit: Vor dem großen Sautreiben wurde das Borstenvieh zur Sicherheit zentimeterdick mit Staufferfett eingerieben. Während des Zapfenstreichs schließlich ließ man »Jolande«, wie die Medien das Ferkel später tauften, dann aus dem Sack hüpfen. Dutzende Soldaten und Polizisten versuchten vergeblich, das schmierige Tier, das auch noch einen Fahnenmast anpischte, einzufangen. Zum Gaudium des Publikums, dem ein filmreifes Slapstickspektakel geboten wurde, gelang dies erst nach einer Stunde. Selbige hatte auch für etliche unbeteiligte Zuschauer geschlagen: die von der Sauhatz überforderten Militärpolizisten griffen sich wahllos ein Dutzend junger Leute und ließen den Knüppel aus dem Sack. Neun der Fest- genommenen sollten sich wegen »Herabwürdigung von Staatssymbolen« vor Gericht verantworten. Die Salzburger Polizei verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß es sich um ein Zirkusschwein gehandelt hätte, das dressiert worden sei, auf die österreichische Fahne zu fäkalieren. Dabei hätten auch die Wachorgane wissen können, daß das Borstentier beim legendären Happening/Teach-in »Kunst und Revolution« am 7.6.1968 im Hörsaal 1 der Wiener Uni nicht zugegen gewesen war. Zwar hatte der junge Michael Jeannee damals im »Express« von der »Uni-Ferkelei« geschrieben. Begangen hatten diese - unter dem Motto: »scheißen und brunzen sind kunsten«, (speziell auf der rot-weiß-roten Flagge) - aber die Creme der Wiener Aktionisten (u.a. Brus, Mühl, Weibel, Wiener und als Masochist, der ausgepeitscht wurde, der jetzige ORF-Journalist Malte Olsch-ewski!) Der Wiener Aktionismus ist heute immerhin eine zumindest in Kunstkreisen vollständig anerkannte Strömung. Damals aber betrieben die Staatsanwälte ihre Form von Kunstkritik. Die meisten der Protagonisten gingen ins Häfen bzw. ins deutsche Exil. Zurück zum Schicksal von »Jolande«: nachdem sich überraschenderweise wochenlang der rechtmäßige Besitzer nicht beim Militärkommando gemeldet hatte, übergaben diese das Tier Landeshauptmann Lechner, der es bei einem Empfang von den Landtagsabgeordneten verspeisen ließ. (Zur ewigen Frage: »Schwein gehabt oder nicht«, siehe auch »kunstfehler« 1/98, S. 20-21: 1968 kandidierte mindestens ein Schwein bei den US-Präsidentenwahlen)

Womit wir auch schon den perfekten Übergang zum nächsten Thema hätten.

Einen späten Höhe- und Endpunkt der Protestbewegung in Salzburg bildete die Demo gegen den Staatsbesuch des US-Präsidenten Richard Nixon am 20.5.1972. Organisiert wurden die Kundgebungen zwar hauptsächlich in Wien, die Gummiwürste trafen aber reichlich Salzburger. Hundertschaften der Polizei räumten mit Brachialgewalt die besetzte Landebahn des Flughafens. Damit hatte auch Österreich eine im internationalen Maßstab verschärfte Konfrontation zwischen Staatsmacht und Protestbewegung.

Selbst bei den Veteranen der 68er-Bewegung herrscht oft der eurozentristische Blick und die Glorifizierung der persönlichen Heldentaten vor. Man überschätzt die eigene Wichtigkeit und übersieht, daß anderswo alles, nämlich das eigene Überleben riskiert wurde. Weltweit gab es Proteste, aber besonders in Lateinamerika spürte man den Wind der Veränderung. Dagegen her-rschte nicht nur in Österreich totale Flaute. Ende Juli 1968 begannen die schweren Auseinandersetzungen in Mexico-City. Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele, am 2. 10. erreichten die Proteste ihren Höhepunkt. Eine riesige Menschenmenge wurde auf einem Platz des Tlatelolco-Viertels von mit Sturmgewehren bewaffneten Soldaten eingeschlossen. Nachdem diese wahllos in die Menge gefeuert hatten, starben 400 Menschen, mehr als 1000 wurden verletzt. Sieht man, welche Zustände heute weiterhin in Mexiko herrschen, also Korruption, Massaker an der rechtlosen indianischen Landbevölkerung in der Provinz Chiapas usw., ist man geneigt, die Folgen von 1968 sehr nüchtern einzuschätzen. Das aufmunternde Schlußwort lassen wir Lutz Schulenburg, dem das klügste und spannendste Buch zum Thema gelungen ist (siehe Literaturtips): »Entgegen den konfektionellen Lügen und einigen akademischen Sterndeutern bleibt 68 weiterhin die fröhliche Provokation und der große weltumspannende Aufbruch, der die Rückkehr der sozialen Utopie anzeigt.«

Was in diesem kleinen Aufsatz alles fehlt, aber wenigstens noch kurz erwähnt werden sollte: der ungeheure Einfluß der Popkultur auf Denken und Leben der Jugend in den 60ern. 1967 wurde Ö3 installiert, deren »Musicbox« etlichen Generationen eine »kritische Poptheorie« näher gebracht hat. Eine Unmenge von inzwischen längst vergessenen Bands traten 1968 live in Österreich auf (näheres bei Ebner/Vocelka). Auch die legendäre »Novaks Kapelle«, eine psychedelische Hard-Rock-Combo, die 68 ihre erste Single veröffentlichte, ist heute kaum mehr bekannt. Dabei hört man ihrem Sound, der weit entfernt von uninspiriertem Epigonentum ist, die Wiener Herkunft nicht an. Rock für die Ewigkeit! Und das Kino? Gewalt - vor allem im Italo-Western, der die unruhigen Zeiten bestens widerspiegelt und mit seiner Revolutionsrhetorik und -mythologie auch karikiert - und die gefürchtete »Sexwelle« (siehe nebenstehendes Kinoprogramm) regten die Spießer auf. Justament 1968 wurde auch in Salzburg (Be)Springflut-Alarm gegeben: im Lifka-Kino, dem heutigen Das Kino, gab man den äußerst lehrreichen Aufklärungsfilm »Helga«. Jetzt aber Schluß mit diesen Sauereien.

Literaturtips:

Paulus Ebner/Karl Vocelka: »Die zahme Revolution«.

68 und was davon blieb. Wien 1998. Ueberreuter Verlag.

Lutz Schulenburg (Hrsg.): »Das Leben ändern, die Welt verändern!« 1968. Dokumente und Berichte. Hamburg 1998. Edition Nautilus.

Paco Ignacio Taibo II: »1968/Gerufene Helden«. Ein Handbuch zur Eroberung der Macht. Hamburg/Berlin 1997. Verlag Libertäre Assoziation - Schwarze Risse/Rote Strasse.

Bärbel Danneberg/Fritz Keller/Aly Machalicky/Julius Mende (Hrsg.): »Die 68er. Eine Generation und ihr Erbe«. Wien 1998. Döcker Verlag.

Wolfgang Kraushaar: »1968. Das Jahr, das alles verändert hat«. München 1998. Piper Verlag.

Fritz Keller: »Wien, Mai 68 - Eine heiße Viertelstunde«. Wien 1988. Junius Verlag (Vergriffen).

All diese empfehlenswerten Bücher haben eines gemeinsam: Sie erwähnen Salzburg mit keinem Wort.