november 1998

Peter Sönser

100 Jahre Psychiatrie

Kein Recht auf angemessene Betreuung?

Salzburg Ende des 20. Jahrhunderts: Stellen Sie sich vor, Sie sind krank und wohnen in einem der schönen Gebirgstäler, wo eigentlich das ganze Jahr nur Sonne scheint und der Berg ruft. Nur leider haben Sie sich nicht den Fuß gebrochen, auch keine Lungenentzündung, sondern Sie sind psychisch krank. Was es genau ist, wissen Sie nicht. Der oder die Angehörigen sagen, Sie hätten sich verändert, Sie haben es auch gemerkt, oder auch nicht... Eines Tages kommen Sie nach Hause zurück und nicht nur der Berg hat gerufen, sondern ohne ihr Zutun hat auch jemand die Rettung gerufen. Kurz wird mit Ihnen gesprochen, dann über Sie und es wird beschlossen, daß man Sie behandeln muß. Angehörige, Hausarzt, Amtsarzt, Polizei, Rettung,... alle sind sich einig, daß Sie behandelt werden müssen, daß Sie in ein Spital müssen, wo man Ihnen helfen kann. Nur leider wohnen Sie in dieser schönen Gegend, wo es weit und breit kein solches Spital gibt, wo man Ihnen helfen kann: Also ab in die Rettung. Sie wehren sich mit Händen und Füßen, weil Sie nicht weg wollen, behandeln lassen schon, aber bitte nicht weg! Fragen über Fragen: »Was wird werden, wie lange wird es dauern, wie soll es dann weiter gehen?« Und vor allem, »wird es bei mir auch so werden, wie bei .......?« Pech gehabt! Nach 2 1/2 Stunden Fahrt sind Sie endlich da, wo man Ihnen helfen kann. Aber Sie kennen niemanden und Sie bekommen auch nur selten Besuch. Irgendwann wird festgestellt, daß Sie jetzt wieder nach Hause können, weil es Ihnen wieder besser geht. Zu Hause warten viele Fragen, aber noch mehr Schweigen. Wie soll es weitergehen?

Wie lange soll es noch so weiter gehen, daß Menschen, die an einer psychischen Krankheit leiden, fernab von ihrer sonstigen Lebenswelt die Behandlung und die einzig mögliche stationäre Betreuung finden, die ihnen helfen kann zu genesen?

Wie weit ist nach 100 Jahren diese Form von Anstaltspsychiatrie noch immer Wirklichkeit, obwohl sie in den einschlägigen Konzepten und Lehrmeinungen schon lange obsolet ist? Die lauten Proteste über die Rückständigkeit und Mißstände in der Psychiatrie, wo Menschen oft jahrelang »verwahrt« wurden, ohne je wieder draußen Fuß zu fassen, haben schließlich zum Unterbringungsgesetz, das seit 1991 in Kraft ist, geführt. Dieses garantiert nicht nur einen Rechtsschutz, wenn es zu einer zwangsweisen Unterbringung kommt, sondern sieht diese als letzte Möglichkeit innerhalb einer patientengerechten und bedarfsgerechten psychiatrischen Versorgung an.

Schon lange beherrscht das Schlagwort Gemeindepsychiatrie und Gemeindenähe den Fachjargon. Die Wirklichkeit sieht aber gerade im Bundesland Salzburg anders aus: Bereits im November 1989 forderte der Salzburger Landtag die Landesregierung auf, die Psychiatriereform durch den Aufbau gemeindenaher, psychiatrischer Versorgungseinrichtungen sowohl im stationären Bereich als auch im ambulanten Bereich fortzuführen. Geschehen ist seither, wenn man das gesamte Bundesland betrachtet, sehr wenig. So verweist auch das Österreichische Gesund-heitsinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG, 1997) in einer kürzlich erschienenen Studie darauf, daß nicht nur die stationäre, teilstationäre, sondern auch die ambulante Versorgung zur Gänze in der Landeshauptstadt konzentriert ist. Auch alle komplementären Angebote wie Übergangswohnheime, oder Langzeitwohnheime usw. sind mit einer einzigen Ausnahme in der Stadt Salzburg zu finden. Lediglich eine nachgehende Betreuung in Form von Hausbesuchen, die allerdings zeitlich sehr begrenzt sind (manchmal nur eine Stunde im Monat), ist durch den Sozialmedizinischen Dienst gewährleistet.

Dabei bestätigen auch neueste Untersuchungen (Meise, 1996), daß bezüglich der Erreichbarkeit einer stationären Einrichtung eine maximale Wegzeit von 30-45 Minuten mit einem öffentlichen Verkehrsmittel liegen soll. Liegt die stationäre Einrichtung weiter weg, kann es sein, daß unnötig lange zugewartet wird und eine Einweisung viel mehr Verunsicherung und Zwang provoziert, als dies der Fall sein müßte. Die soziale »Entwurzelung« während des Behandlungszeitraums bedeutet auch eine Erschwerung des Heilungsvorgangs, weil es nicht nur gilt, diese psychische Krise zu bewältigen, sondern auch wieder im alltäglichen Leben Fuß zu fassen: Reintegration, die um vieles leichter sein könnte, wenn die geforderte Integration der Psychiatrie in die allgemeine medizinische Versorgung schneller vonstatten ginge.

Nun steht die Adaptierung von Grafenhof als erste dezentrale stationäre psychiatrische Einrichtung an. Seit 1. Oktober werden Langzeitpatienten durch einen »halben« Facharzt für Psychiatrie mitbetreut. Diese Betreuungsform birgt die Gefahr einer »Scheindezentralisierung«, die wiederum Asylierung von psychisch kranken Menschen in neuem Gewand bedeutet.

Noch steht ein Konzept für eine umfassende psychiatrische Betreuung auch für kurz- und mittelfristige Therapien sowie für Akutbetreuung aus. Bleibt zu hoffen, daß dieses noch Wirklichkeit wird und nicht im Kampf um Primariate und Betten stecken bleibt.

Es genügt nicht auf die Erfahrung der letzten 100 Jahre stolz zurückzublicken, sondern braucht verantwortliche Umsetzung der lang geforderten Notwendigkeiten, wenn das Recht auf angemessene Betreuung außerhalb der Stadt Salzburg nicht zur Farce werden soll.

Das Team der Patientenanwaltschaft GST Salzburg, im Oktober 1998

Dr. Mag. Günther Fißlthaler, Mag. Peter Sönser, Mag. Christine Lacher

Literatur: Meise, U. & Hafner, F. & Hinterhuber H. (1998). Gemeindepsychiatrie in Österreich. Innsbruck: Verlag Integrative Psychiatrie.

Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG, 1997). Struktureller Bedarf in der psychiatrischen Versorgung. Im Auftrag des Strukturfonds.

Wahrnehmungsbericht des Rechnungshofes: ZI 01 505/40-Pr/6/98