dezember 1998

Mario Jandrokovic

Kunst als neue Form der Solidarität

Künstlerische Interventionen und realpolitische Konsequenzen. Der venezolanische Maler Jacobo Borges und seine Aktionen der Metropole Caracas

»Das Retén de Catia verschwindet heute. Es wird bloß zwei Sekunden dauern, bis es in sich zusammenbricht. Die Menschen von Catia, die Menschen von Caracas, die Venezolaner werden miterleben, wie eine der schlimmsten Stätten unseres Strafvollzugs verschwindet. Ein Gebäude, das mehr als eine Million Bewohner einer ganzen Stadt als Deliquenten stigmatisierte und Caracas in zwei Bezirke aufteilte: einen der Bürger und den anderen der Armen. Viele Menschen aus Caracas haben die gesamte Welt bereist, kennen New York, Paris und Tokio, dennoch er-schienen ihnen Catia, bloß 10 Fahrtminuten von der Innenstadt entfernt, fremder als der Mars.«

Mit diesen Worten leitete der Maler Jacobo Borges eine Ansprache ein, die er im März 1997 vor 10 Millionen Fernsehzuschauern hielt. Anlaß war die Sprengung eines Gefängnisses, das im Westen von Caracas mitten im Wohngebiet lag. Zahllose führende KünstlerInnen, Intellektuelle, SportlerInnen und andere Personen des öffentlichen Lebens Venezuelas stammen aus Catia, auch der 1931 geborene Maler wuchs dort auf. Doch gerade wegen der Strafanstalt wurde dieser hauptsächlich von mittelständischer Arbeiter- und Angestelltenklasse bevölkerte Stadtteil zur verbotenen, diskriminierten Zone, in der dann in Konsequenz auch keine Infrastruktur des öffentlichen Lebens existierte. Um ein Kino zu besuchen oder ein gewöhnliches Restaurant, mußten die Leute den Ostteil der venezolanischen Metropole aufsuchen. Der Präsident der Republik hatte Jacobo Borges gebeten, die Rede zu halten, denn schließlich war der international renomierte Maler auch treibende Kraft einer kulturellen Initiative gewesen, die den Rahmen einer symbolischen Intervention (wortwörtlich) zu sprengen vermochte und tatsächliche Konsequenzen auf realpolitischer Ebene einleitete. Zwei Jahre vor der spektakulären, im gesamten Land mit Spannung verfolgten Schleifung eines Gebäudes, das wie kein zweites für Repressalien und Nachlässigkeiten in der Rechtsprechung der ältesten Demokratie Südamerikas stand, öffnete in dessen unmittelbarer Nachbarschaft ein nach Jacobo Borges benanntes Museum und wurde zum Brennpunkt einer ungeheuren, weit über den Stadtteil hinaus wirksamen sozialen Dynamik, die auch entscheidend die Themen im nunmehrigen Wahlkampf mitprägt (Venezuela und ganz Südamerika fiebern den Präsidentschaftswahlen am 6. Dezember entgegen, die radikale Veränderungen erwarten lassen).

Dieses Museum diente jedoch nicht bloß als Vorhut einer jener weltweit üblichen urbanistischen Behübschungsaktionen, mithilfe der die offensichtlichen Zeichen des sozialen Auseinanderdriftens einer Gesellschaft in einen weiteren Randbezirk gedrängt werden. Das Museum wurde zum Treffpunkt sozialer Initiativen, die nicht bloß die Abschaffung dieses Gefängnisses, sondern eine generelle Verbesserung der Haftbedingungen und eine radikale Reformierung des Rechtswesens einforderten. Dieses Untersuchungsgefängnis wurde zum Anlaßfall für die Solidarisierung sowie für gemeinsame politische Forderungen einer breiten Öffentlichkeit. Jacobo Borges, der auch heuer eine Malklasse bei der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg leitete, meinte dazu im Interview: »Jeder, der auf der Straße Streit hatte, wurde bis zu fünf Jahre in diesem grauenhaften, überfüllten Gefängnis festgehalten, bis sein Prozeß aufgerollt wurde, und nach dem Prozeß lautete das Urteil 15 Tage. Die Familie war in der Zeit gezwungen, Drogen zu verkaufen, um das Überleben des Gefangenen zu sichern. Und jedesmal, wenn es einen Aufstand gab, mußten die Leute rundherum in Deckung gehen, weil geschossen wurde. Jetzt haben sich die Haftbedingungen verbessert, und die gesamte Bevölkerung - bis zum obersten Gerichtshof - drängt auf eine baldige Reformierung des Rechtssystems.«

Die Arbeit von Kunstschaffenden mit Gefängnisinsassen - die gemeinsame Produktion von Zeitungen, Drucken, Theaterstücken - spielte eine wichtige Rolle bei der allgemeinen Sensibilisierung für eine Problematik, die nicht einfach nur mit der Umgestaltung eines trägen, korrupten Rechtssystems aus der Welt zu schaffen wäre. Mit dem Gefängnis verschwand letztendlich ein Symbol jener staatlichen Repression, die als Mittel zur Aufrechterhaltung der Macht- und Besitzverhältnisse diente, wie Jacobo Borges auch in seiner denkwürdigen Rede betonte: »Dieses Strafvollzugssystem erwies sich als sehr praktisch in einer Zeit, als das Land reich war und Geld reichlich floß dank der Ölquellen, als Rohstoffe wertvoll waren und Menschen überflüssig, wenn nicht hinderlich. Dieselben Menschen, verurteilt zum Außenseitertum, verlangten nach mehr Repression, um sich gegen Deliquenten zu schützen, die die Gefängnisse selbst geschaffen hatten. Gleichzeitig breitete sich die Korruption aus, da es niemanden gab, der ihr Einhalt geboten hätte...«

Zwischenzeitlich ist der Ölpreis gefallen, und ein Wirtschaftssystem, das primär auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet war - hauptsächlich zum Vorteil einer kleinen Schicht im Inland und von Interessenslobbies im Ausland -, ist arg in Mitleidenschaft gezogen. Dabei hatte Venezuela - gerade wegen seiner Erdölvorkommen - von der Weltbank in den letzten zwei Jahrzehnten das gut Zwanzigfache des Marshallplanes erhalten, mit dem das zerstörte Nachkriegseuropa wiederaufgebaut wurde. »Privatisierung« und »ausländisches Investment« lauteten in jüngster Zeit die verheißungsvollen Parolen vom WorldWideWeb bis zu unseren Wirtschaftszeitschriften, doch auch die Heilslehre des freien Marktes hebt nicht eine im heutigen Venezuela vorherrschende allgemeine Ungewißheit auf. Gleichzeitig zieht der jetzige Favorit für das Amt des Präsidenten, der allgemein als »Links-Nationalist« bezeichnete Hugo Chavez, mit Kampfansagen gegen Weltbank, Erdölgesellschaften und Globalisierung in den Wahlkampf. Der populistische Politiker, der als Anführer eines (niedergeschlagenen) Militärputsches zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, hat allerdings 70 Prozent der Armen des Landes auf seiner Seite, die für eine mögliche Veränderung ihrer Situation auch das Risiko des Ungewissen auf sich nehmen.

Jacobo Borges hat das Angebot, sich als Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters von Caracas auf berufspolitisches Pflaster zu begeben, trotz seiner ungeheuren Popularität abgelehnt. Seine politische Aufgabe sieht er in der eines partizipierenden Bürgers und eines Künstlers, der den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen den Kulturen neue Qualitäten geben kann: »Die Beziehungen zwischen den Ländern sind generell nur ökonomische, wir sind immer isolierter und glauben dabei, wir sind näher zusammengerückt.« Mit seiner Ausstellung »Der Himmel senkte sich«, die sich mit der Sintflutthematik auseinandersetzt, gab Jacobo Borges im lokalen Rahmen ein anschauliches Beispiel für diese Qualität der Kommunikation durch Mittel der Kunst. Die erstmals vor zweieinhalb Jahren in der Salzburger Residenzgalerie gezeigte Schau wurde in Caracas auf den Trümmern des Retén de Catia gezeigt. »Alleine die Adresse der Ausstellung bedeutete für die Leute aus dem wohlbehüteten Osten der Stadt einen großen Konflikt, die Angst vor dem Ungewissen. Trotzdem sind 40.000 gekommen. Das war ein Aktion, eine Bewegung, nicht bloß der Besuch einer Ausstellung. Sie veränderten die Stadt und sich selbst, das war der Anfang einer neue Form der Solidarität.«