mai 1999

Doc Holliday
schön und gut

Freiheit für Hosenbeine

Einige notwendige Anmerkungen zum gut 30jährigen Jubiläum der Glockenhose.

Beinkleider, das hat die Menschheitsgeschichte bislang bewiesen, sind ein beliebtes, weil praktisches und besonders für Männer in unseren Breiten fast unentbehrliches Mittel, um sich vor den Unbillen der Witterung zu schützen. Die moderne Zeitrechnung bei den Hosen begann 1850, als der deutsche Auswanderer Levi Strauss an der amerikanischen Westküste die Produktion der groben, blauen Arbeitshosen aus geköpertem Baumwollgewebe startete. In Form und Aussehen blieben die Blue Jeans über 100 Jahre praktisch unverändert. Bis ins Jahr 1966, als ein junger Londoner Schneider namens Colin Wild(!), wahrscheinlich unter dem Einfluß bewußt-seinserweiternder Substanzen, die Hosenbeine vom Knie abwärts nach unten wie die Seiten eines Trapezes »ausstellte«. »Swinging London« hatte seinen Namen zu verteidigen, also sollten auch die Hosenbeine locker hin- und herschwingen. Zuerst war dieses Privileg nur Trägern von Hosen aus traditionellen Anzugsstoffen beschieden. Bald aber produzierten auch Jeansfirmen Glockenhosen. Levi`s schickte 1969 seine erste in die Geschäfte. Während eine Jugendkultur entstanden war, die von der Abschaffung des Kapitalismus sprach, antwortete dieser mit neuen Vermarktungsmöglichkeiten und einem ungeahnten Boom für die Bekleidungsindustrie. Die Kleidermacher erkannten bald einen Zusammenhang zwischen der Bewußtseinserweiterung und den erweiterten Hosenbeinen. Letztere wurden von Jahr zu Jahr extremer (mit dem Rekordjahr 1974), genau wie die überbreiten Hemd- und Jackenkrägen, die Höhe der Schuhabsätze, die Haarlänge usw. Dieses »höher, länger, breiter, weiter« entsprach dem blinden Fortschrittsglauben dieser Jahre. Während oben am Bund und im Schritt natürlich alles ganz eng sitzen mußte, was bei Kulturpessimisten schon Sorge um Volksgesundheit, Zucht und Vermehrungsfähigkeit aufkommen ließ. Und bestimmt ist es kein Zufall, daß in den 70ern der moderne Katastrophenfilm erfunden wurde. Zu den altbekannten Desastern wie Erdbeben, Feuersbrünsten und Heuschrecken kam noch ein weiterer Schlag: die Hosen mit selbigem, die sich bevorzugt in Fahrradketten verfingen und zu bösen Abwürfen führten. Da bleibt nur eine bange Frage offen: sind die Retro-Kids der 90er, die es wieder läuten lassen, überhaupt noch zu retten?