juni-juli 1999

Ursula Schupfer - Rotter

»The insanity of state«

Straßenzeitungen übernehmen immer öfter Aufgaben, die eigentlich der Staat zu erfüllen hätte

Straßenzeitungen sind in ihrer bald zwanzigjährigen Geschichte wichtige Faktoren geworden. Sozial ebenso wie wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch.

»Ich freue mich immer, wenn sich die Leute über uns aufregen. Das ist ein Zeichen, daß wir etwas bewegen können«, so positionierte sich »Trott-War«-Chefredakteur Helmut H. Schmid beim Internationalen Workshop der Straßenzeitungen in Stuttgart Ende April. Die Sozialprojekte »Straßenzeitungen" sind nämlich durchaus wirtschaftlich und politisch ernstzunehmende Faktoren. Die eben erwähnte Stuttgarter Straßenzeitung «Trott-War« beispielsweise hat eine monatliche Auflage von 40.000 Stück, belegt zwei Etagen in einem Bürohaus und hat mittlerweile elf Verkäufer angestellt. Es geht aber noch größer: »Big Issue North« gibt es jetzt seit sechs Jahren, verkauft 52.000 Stück wöchentlich (!) und besitzt in Manchester ein Verlagsgebäude ähnlich den SN in Salzburg. In London, bei der Übermutter der »Big Issues« Großbritanniens, sitzen 143 angestellte RedakteurInnen.

Dennoch ist auch dort nicht alles Gold, was glänzt. Die sozialen Probleme sind, gerade auf der britischen Insel, enorm. Der Staat ist, so kann man durchaus behaupten, aus der Sozialversorgung einfach ausgestiegen. Und hier springen die Straßenzeitungen ein. In Manchester können Obdachlose im Verlagsgebäude duschen, Wäsche waschen, sich aufwärmen. Sozialarbeiter stehen zur Beratung bereit, täglich ist für eine halbe Stunde ein Arzt anwesend. Nicht viel, möcht man meinen. Dennoch: Die Todesrate unter den Obdachlosen ist gesunken, seit Anne Mc Namara, Chefredakteurin in der Industriestadt, den Arzt-Service eingerichtet hat. Beinahe gruselig sind ihre Schilderungen, wie oft sie Junkies und kranken Obdachlosen beim Sterben zusehen mußte, weil kein Arzt zur Hilfeleistung bereit war. Dieses Beispiel ist nur eines von unzähligen, die Mel Young, wohl einer der prominentesten Vertreter der Straßenzeitungs-Szene, als »complete insanity of state« bezeichnet.

Zum Service der »Big Issue«-Straßenzeitungen gehören auch Wohnungsvermittlung, Umschulungen, Wiedereingliederungen in die Gesellschaft. Aufgaben, die eigentlich primär der Staat oder die Kommunen zu erfüllen hätten. Nicht ganz so drastisch sind die Probleme in der benachbarten Bundesrepublik. Dort funktioniert das Sozialwesen noch ganz gut. Trotzdem, auch hier übernehmen Straßenzeitungen weite Teile der Versorgung und Betreuung von Obdachlosen, psychisch Kranken, Langzeitarbeitslosen und Alkoholkranken. So zum Beispiel in Hamburg, einer der reichsten Städte Deutschlands. »Was ich heute bin, habe ich »Hinz und Kunzt« zu verdanken«, erklärt ein langjähriger Verkäufer der Hamburger Metropole. 1993 ging »Hinz und Kunzt« mit einer Auflage von 30.000 Stück in den Straßenverkauf, heute werden über 90.000 Zeitungen jeden Monat verkauft. Acht ehemals Obdachlose sind mittlerweile angestellt, um den Vertrieb zu organisieren und zu überwachen. Sie sind für Vorbild für viele VerkäuferInnen, die ebenfalls hoffen, mit Hilfe dieses niederschwelligen Arbeitsprojektes zurück ins »normale« Leben zu finden.

Der Weg dahin ist hart. Denn allein die Rahmenbedingungen für die Vermittlung von Wohnungen durch den »Hinz und Kunzt-Wohnungspool« sind wesentlich schwieriger geworden. Selbst eine – im Hamburger Durchschnitt – relativ günstige Mietwohnung kostet um die 4.500.- Schilling. Ein Betrag, den das dortige Sozialamt nicht übernimmt. Und ohne Wohnung kein Arbeitsplatz. Ein Teufelskreis. Die Selbstmotivation zum langfristigen Zeitungsverkauf fällt immer schwerer, der Gesundheits- und psychische Zustand der VerkäuferInnen verschlechtert sich zunehmends. Die Verkaufszahlen sinken.

Überlebensängste plagen die Hamburger Zeitungsmacher dennoch nicht. Obwohl das Projekt mit »null Mark staatlicher Unterstützung« auskommen muß, steht »Hinz und Kunzt« beneidenswert gut abgesichert da. Ein reges Spendenaufkommen (41% des Gesamtvolumens!) und geniales Fund-Raising machen die Hamburger Straßenzeitung wohl zu einem der innovativsten und erfolgreichsten Projekte in Deutschland. Die soziale Bilanz kann sich sehen lassen: Neben dem bereits erwähnten Wohnungspool hat die gemeinnützige GmbH unter anderem einen Rechtshilfe-Fonds, einen Gesundheits-Fonds, einen Sparklub, Essens- und Kleiderbörsen, Möbelhilfen, Verkäufer-Wochenendreisen und Umzugs- und Renovierungshilfen aufgebaut.

Geldmittel flüssig zu machen ist eines der schwierigsten Dinge im Straßenzeitungsgeschäft. Denn die Erlöse aus dem Verkauf reichen zumeist gerade um die Kosten für die Herstellung der Zeitung und ein, vielleicht zwei Teilzeitangestellte zu bezahlen. Honorare für die SchreiberInnen, Büromieten, laufende Kosten etc. sind damit noch lange nicht abgedeckt. Wenn ein Computer eingeht, kann das zum existenziellen Problem für eine Straßenzeitung werden. Ideenreichtum ist daher notwendig. »Bodo«, die Straßenzeitung für Bochum, Dortmund und Umgebung, beispielsweise hat heuer den deutschen Fund-Raising-Preis gewonnen. Mit einer Plakataktion. »Etwas bodo sind wir alle« lautet der griffige Slogan, mit dem Promis wie Vater Beimer aus der Lindenstraße oder der Oberbürgermeister gu-ten Wind für die Straßenzeitung machten. Billig war die Aktion nicht. Mehr als eine Million Schilling haben die Werbelinie, der Druck, die Plakatierung und der Fotograf verschlungen. Trotzdem blieb unter dem Strich ein Gewinnn für die Bodo-Macher übrig. Wie? Fund-Raising eben, geschickt angelegt und letztlich rentabel. Denn aufgrund der Aktion hat sich die Auflage erhöht, Sponsoren und Werbeagenturen klopfen an. Und nebenbei hat sich ein angenehmer Effekt eingestellt. In einigen deutschen Städten gilt nämlich nach wie vor das »Straßen- und Wegerecht«, das heißt, der Bürgermeister kann bestimmen, daß auf den öffentlichen Plätzen nicht gebettelt oder keine Zeitungen verkauft werden dürfen. »Mit Bodo wird die Stadt ein bißchen bunter«, haben die Zeitungsmacher dem Oberbürgermeister entlockt und auch sein Konterfei aufs Plakat gedruckt. Nun tun sich die Aufsichtsorgane schwer, das Straßen- und Wegerecht gegen die Bodo-VerkäuferInnen durchzusetzen.

Doch nicht nur mit mittelalterlichen Bestimmungen kämpfen Straßenzeitungen und vor allem ihre VerkäuferInnen. Praktisch in allen europäischen Städten steigt das Sozialamt den Kolporteuren auf die Zehen. Verdientes wird beinhart von der Sozialhilfe abgezogen. Zuweilen macht sich triste Stimmung breit – auch in Salzburg. Der Verkauf stagniert bei jedem negativen Amts-Erlebnis der VerkäuferInnen. Um dem zu entgehen, haben die bereits etablierten Straßenzeitungen angefangen, VerkäuferInnen anzustellen. Rund 10.000.- Schilling verdienen sie und verpflichten sich im Gegenzug monatlich eine bestimmte Anzahl von Zeitungen zu vertreiben. Logischerweise sind nicht alle für so eine Wiedereingliederung geeignet. Schwere Alkoholiker oder Menschen, die in psychiatrischer Behandlung stehen, kommen mit strikten Vorgaben nur schwer zu Rande.