dezember 1999

Wolfgang Karlhuber
im gespräch

»Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter...«

Ein »kf«-Gespräch mit der kroatischen Schriftstellerin Slavenka Drakulic über ihren Roman »Marmorhaut«

Slavenka Drakulic, geboren 1949 in Kroatien, errang Weltruhm mit ihren Romanen »Das Liebesopfer« (1997) und »Marmorhaut« (1998), ist aber auch als politische Essayistin tätig; momentan lebt sie in Berlin. »Marmorhaut« handelt von einer Mutter-Tochter-Beziehung, innerhalb derer die Mutter nicht wahrnehmen will, dass ihre Tochter vom Stiefvater sexuell missbraucht worden ist.

Ihr neuer Roman «Als gäbe es mich nicht« ist vor kurzem im Aufbau Verlag erschienen.

Es braucht Unterstützung, sich den eigenen Körper zu erwerben, und Dialog, sich als der eigene Körper wahrzunehmen. Wäre das ein mögliches Resümee des Romans?

• Das ist mir viel zu theoretisch, weil der Körper auch ohne Sprache existiert. In diesem Roman geht es mir hauptsächlich um die Unmöglichkeit, über den Körper zu kommunizieren, was dazu führt, dass die Mutter als Mutter keine Sexualität haben darf und die Tochter als Tochter auch keine. Aber diese Unmöglichkeit wiederholt sich in meinem gesamten Werk: In »Das Liebesopfer« z. B. kann Theresa ihren Geliebten nur durch Körpersprache erreichen und in meinem vierten Roman, den ich soeben beendet habe, zieht sich eine junge, muslimische Frau, die in einem serbischen Konzentrationslager vergewaltigt wurde, aufgrund dieser Unmöglichkeit aus ihrem Körper gewissermaßen zurück, um zu überleben.

Im letzten Drittel steht ein Satz, der mich aus dem Gleichgewicht gebracht hat: «Weil er kurz zuvor ihm gehört hatte, war dieser Körper jetzt mein, ein für allemal erobert.«

• Diese Beziehung zu ihrem Stiefvater hat sie zur Frau gemacht. Das ist eine der Sachen, die an diesem Buch stark kritisiert wurden. Ein Kritiker z. B. schrieb: Das ist ein Buch über den sexuellen Missbrauch von Kindern. Das stimmt nicht, denn dieser ältere Mann, der sich an das junge Mädchen heranmacht, wird gleichzeitig vom Mädchen verführt, das sich auf der Suche nach einer durch die Mutter verbotenen sexuellen Identität befindet. Sie nützt diesen Akt der Gewalt als Gelegenheit für sich selbst. Eine ganze Bandbreite von Gefühlen und Einstellungen findet gleichzeitig statt – es ist möglich, zu genießen UND Opfer zu sein!

Oberflächlich gesehen handelt es sich um einen Roman, der in einer Vergewaltigung gipfelt, aber in der darunterliegenden Schicht geht es um den Hass der Mutter auf ihren eigenen Körper und wie sie damit den Körper ihrer Tochter instrumentalisiert.

• Mit dem Wort «Vergewaltigung« versucht die Tochter vergeblich, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu erwecken. Die Tochter darf nichts von den Vergnügungen des Körpers wissen, sondern muss sich mit dessen «negativen« Seite begnügen – ein Problem, das auch in der feministischen Literatur zu wenig diskutiert wurde. Ich bin der Meinung, dass das Gefühl der Mütter, ihre Töchter vom Sex fernhalten zu müssen, unter die Ebene der jeweiligen Gesellschaft geht. Einerseits muss sich die Tochter mit dem Rollenmodell der Mutter identifizieren, aber gleichzeitig kann sie das nur unvollständig. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist die komplexeste innerhalb der Kernfamilie. Es ist eine Illusion meiner Generation, dass es möglich sei, der Tochter eine Freundin zu sein und zu sagen: Lebe den Sex, den du haben willst, ich gebe dir die Pille. Ab einem gewissen Punkt wird die Tochter sagen: Ich brauche eine Mutter, die mich beschützt.

Aber die Mutter im Buch ist ja eine, die beide Rollen verfehlt:

Weder gibt sie das Vergnügen frei, noch beschützt sie die Tochter.

• Wir hatten diese große Untersuchung im Großbritannien der 80er Jahre: jedes dritte Kind war innerhalb der Familie sexuell missbraucht worden! In vielen Fällen wussten es die Mütter und wollten es nicht wahrnehmen! Sehr wichtig jedoch ist mir der Moment, in dem die Tochter nach dem missglückten Selbstmordversuch der Mutter ins Haus zurückkehrt, um sie zu versorgen, so wie ihre Mutter sie als Kind versorgt hat – das ist der Moment der Versöhnung, weil der sexuelle Wettbewerb mangels gleichwertiger Gegnerinnen nicht mehr stattfindet. In diesem Roman versuche ich die Mutter eben auch als Charakter, nicht nur als Funktionsträgerin darzustellen, die ein Recht hat, ihre Tochter zurückzuweisen und ein eigenes Leben zu führen. Das lässt sich als grausam bezeichnen, sie erfüllt ja auch ihre Mutterpflichten nicht – aber genau da liegt das Drama. Es gibt ein wunderschönes Bild einer schwedischen Malerin, Lena Cronquist, das eben dieses Drama darstellt: Eine ca. 30jährige, in einem Sessel sitzende Frau hält in ihrem Schoß eine Puppe – aber diese Puppe ist ihre alte Mutter!

Danke für das Interview.