november 1999

Doc Holliday

Deregulierung - das Zauberwort des Neoliberalismus

Ein Sittenbild am Ende des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Ladenschluss-debatte. Oder: die Wahl zwischen Pest und Cholera

Sonst ist das ein Thema, mit dem die journalistischen Sommerlöcher gestopft werden. Aber gerade jetzt in der heraufdräuenden Vorweihnachtszeit, in der so ganz und gar nicht still und heimlich sich alles nur um das eine, nämlich ums hemmungslose Geschäftemachen dreht, wird die Frage wieder hochgespielt werden: wie lange dürfen die Geschäfte offenlassen? Dabei ist die Entscheidung aber bereits gefallen. Unsere ach so soziale, besonders aber freie Marktwirtschaft spaltet die Menschheit in den ausgebeuteten Dienstleistenden und den ausgebeuteten Konsumenten. »Ein Krieg der Angeschissenen ist entbrannt« (Georg Seeßlen).

Die Debatte um den Ladenschluss dürfte deshalb so aufgeheizt sein, weil den meisten Menschen noch nicht ganz klar zu sein scheint, wie sich die Umwandlung einer Produktions- und Verwaltungsgesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft vollziehen wird. Und die ewige Frage die damit einhergeht lautet: wer wird zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern gehören? Die Würde des Menschen im Kapitalismus besteht darin, dass er sich halb tot arbeiten darf, um sodann als Kunde aufzuerstehen. Freiheit ist nur ein anderes Wort für Konsum.

Dabei könnte so etwas wie Zärtlichkeit in diesem System darin bestehen, dass sich der Mensch, der dem anderen etwas verkauft, sich doch darüber freuen könnte, dass er dem anderen damit ein kleines Glückserlebnis verschafft hat. Aber in Wirklichkeit kaufen wir Konsumenten in der Regel von Menschen, die nur eines mehr hassen als den eigenen Job, nämlich uns Kunden. Das hat aber auch seine Gründe: überarbeitet, unterbezahlt, von allerlei Freizeitaktivitäten ausgeschlossen, das ist das Los der meisten Verkäufer/innen. Aber alle Misere führt nicht dazu, dass selbst unter den Betroffenen auch nur ein Anflug von Solidarität entsteht. Oberstes Prinzip bleibt gemäß der Logik dieses Systems der Egoismus. Hauptsache das Unangenehme trifft die anderen. Einen Sinn gäbe auch bloß die bedingungslose und umfassende Solidarität. Von den ausgemusterten Arbeitslosen (Teil dieser Reservearmee zu werden, das geht schneller als man denkt!) bis zu den heimatlosen Intellektuellen. Welch ein edler Wunsch. Das Wort Solidarität bedeutet schließlich selbst für Gewerkschafter nicht viel mehr als der Name ihrer reichlich faden und belanglosen Mitgliederzeitschrift. Schon längst wollen diese Gutmenschen niemanden mehr stören, soweit ihre eigenen Geschäfte nicht gestört werden. Ist dies der Fall, siehe Stronachs Magna-Werke, gibt es zwar ein Aufheulen. Über die Gründe für die antigewerkschaftliche Haltung der Lohnabhängigen möchte man aber nicht genauer nachdenken. Bloß keine Betriebsstörungen. Und nebenbei bemerkt: für die Besserverdienenden (dazu gehören auch viele Gewerkschaftsfunktionäre), für die Reichen und Mächtigen dieser Gesellschaft war es noch nie ein Problem zu bekommen was sie wollen. Da können auch die »Arbeitervertreter«, quasi als ginge es darum eine Portion des eigenen schlechten Gewissens zu bezwingen, für geregelte Öffnungszeiten sein. Überhaupt ist ein Dilemma der Ladenschlussdiskussion, dass die Liberalisierungsgegner genauso unsympathisch sind wie die Befürworter. Die Kirchen etwa, deren Ablehnung der Sonntagsarbeit wohl daraus resultiert, dass sie schließlich ihre letzten Kunden nicht an den »Konsumtempel« verlieren möchten. Welch eine (Schein)Wahl: zwischen neoliberalem Abzocken und fundamentalistischer Moral. Am Ende aber stehen nur frustierende Gewissheiten fest.

Das Geld, das die Herrschaft der Besserverdienenden, der wahren Systemgewinner, unsereins übrig lässt, kann ohnehin nur einmal ausgegeben werden. (Die Kreditwirtschaft und andere Finanzhaie bieten keinen Ausweg, höchstens einen für den man bitter bezahlen muss!). Und die Aufhebung des Ladenschlusses wird bloß den Machtkampf zwischen den einzelnen Konzernen anheizen. Dem kleinen Greißler an der Ecke wird das wenig helfen. Wohl wird die Selbstausbeutungsrate erhöht werden. Dies, und der sich für die Kleinkrämer abzeichnende Weg zu den »Modernisierungsverlierern« zu gehören, wird den »effektiveren« Populisten der FPÖ weitere Wähler und Sympathisanten zutreiben.

Was also tun? Vielleicht erst einmal das gern von den Apologeten des Neoliberalismus missbrauchte Wort von der Flexibilität etwas anders interpretieren, nämlich: kauft Eure Zappa- oder Kruder & Dorfmeister-CDs einfach zu »normalen« Zeiten. Auch schadet so etwas wie »Einfühlungsvermögen« in die Arbeitssituation der Mitmenschen keineswegs. Ganz nach dem Motto: was du nicht willst, dass es dir geschehe, das tue auch keinem anderen an.